Sonntag, 30. Januar 2011

Simenon

Habe Simenon „Der Bürgermeister von Furnes“ gelesen. Der Bürgermeister Joris Terlinck ist ein ekelhafter Typ: er hat seine Haushälterin geschwängert, sein Sohn ist Anfang 20 und ist in der Armee, die Haushälterin und seine Ehefrau wohnen in demselben Haus. Außerdem hat er mit seiner Ehefrau eine geistig behinderte Tochter, die in einem abgeschlossenen und abgedunkelten Raum vor sich her vegetiert (ab und zu bekommt sie zu essen , ab und zu wird sauber gemacht, es kümmert sich niemand darum, wie sie ihre Notdurft verrichtet). Terlinck ist gleichzeitig Inhaber einer Zigarren-Fabrik. Eines Abends klingelt einer seiner Beschäftigten (Jef Claes) bei ihm zu Hause und bittet um einen Vorschuss auf seinen nächsten Lohn, weil seine 18 jährige Freundin schwanger ist und er sich mit ihr eine Wohnung einrichten möchte. Terlinck lehnt eiskalt ab, worauf Jef Claes ihn mehrmals anfleht und ihm androht, sich umzubringen. Terlinck bleibt hart, und am nächsten Tag bringt Jef Claes sich um. Dieser Selbstmord berührt ihn überhaupt nicht, und machtbesessen übt er seinen Posten als Bürgermeister von Furnes aus (liegt in Flandern und heißt dort „Veurne“). Hierbei ist sein schärfster Konkurrent der Vater der Freundin von Jef Claes (Van Hamme). Nach Bekanntwerden der Schwangerschaft setzt Van Hamme seine Tochter vor die Türe und besorgt ihr eine Wohnung in Ostende. Irrational und nicht erklärbar fährt Terlinck danach immer wieder zu der 18 jährigen nach Ostende und überhäuft sie mit Geschenken, obschon es niemals eine Aussicht auf irgendeine Beziehung gegeben hätte. Gleichzeitig verschlechtert sich der Gesundheitszustand seiner Ehefrau immer mehr, und dennoch hört er nicht auf, nach Ostende zu fahren. Das Ende des Buches entwickelt sich dahin, dass seine Ehefrau stirbt und dass er seinen Posten als Bürgermeister an seinen Konkurrenten Van Hamme abgibt. Mich beeindruckt Simenons Stil, dessen Roman mit relativ wenig Handlung und subtilen Charakterbeschreibungen eine hohe Erzähldichte aufweist. Fixpunkte sind Terlinks zu Hause, wie er seine Zigarren raucht, das Café „Le Vieux Beffroi“ und der Marktplatz von Furnes. Diese Fixpunkte beschreibt Simenon in ständig neuen Facetten und Alltagssituationen. Das skandalöse Auftreten von Terlinck muss in der Zeit von 1938 verstanden werden, als der Roman geschrieben wurde. Im heutigen Umfeld von Presse, Medien und Öffentlichkeit wäre Terlinck mit all seinen Skandalen wahrscheinlich nicht lange Bürgermeister geblieben. Im Roman sicken all seine Skandale nur langsam über die Mutter des toten Jef Claes durch, die in Furnes allen davon erzählt. Anstoß für seinen Rücktritt sind letztlich die menschenunwürdigen Umstände, unter denen seine geistig behinderte Tochter lebt. Die Untersuchung dieser Umstände ist gerichtlich angeordnet worden.