Die Besprechung hatte sich um vierzig Minuten in die Länge gezogen. Ich flitzte mit dem Peugeot Rennrad nach Hause. Waschen, umziehen. Frau und Kind einsammeln, losfahren, kein Stau auf der Autobahn. Das war bis auf die Minute ausgezirkelt. Punkt halb drei, als die Glocke schlug, betraten wir die Kirche.
Das Orgelspiel setzte wie Hammerschläge ein. Die Schar der Trauernden war groß, und wir mussten weit nach vorne, bis wir in einer Seitenbank freie Plätze fanden.
Mein Onkel H. war im Alter von 72 Jahren verstorben.
„Wir alle trauern mit seiner hinterbliebenen Ehefrau, seiner Familie und seinen Angehörigen. Er war ein geschätzter Ehemann und Vater. Seine Familie hatte er über alles geliebt. Seine eigenen Bedürfnisse untergeordnet. Seine Familie wird ihm für immer dankbar sein, welch schönes Haus er selbst gebaut hat … „ würdigte die Pastorin den Verstorbenen.
Onkel H. hatte seit etwa drei Jahren an Sklerose gelitten. Muskeln und Körperbewegungen hatten zunehmend ihren Dienst verweigert. Seit einem Jahr hatte er im Rollstuhl gesessen. Zuletzt hatte ich in beim Geburtstag meines Bruders im März gesehen. Weil er in seinem Rollstuhl zu schwer war, waren wir nicht in der Lage gewesen, ihn auf unsere Terrasse zu tragen. Daher hatten wir uns zu ihm hinter dem Treppenaufgang gesellt. Seine Gliedmaßen regten sich zäh und vorsichtig. Trotzdem hatte er ein fröhliches Gesicht gemacht, er hatte uns angelächelt. Sonst war er eher ein trockener und korrekter Menschentyp, aber in diesem Moment war er mir locker und wie eine rheinische Frohnatur vorgekommen.
Zuletzt war Onkel H. ein Pflegefall, und meine Tante und meine Cousine mussten sich rund um die Uhr um ihn kümmern. Niemand wird dem Tod seine Tragik nehmen können. Aber in seinem Fall war es vielleicht eine Art Erlösung von seinem Leiden.
Bis auf den Chorraum, der sich mächtig empor reckte, war die Kirche schlicht und einfach. Sie war neugotischen Ursprungs, um 1900 gebaut. Die hohen Kirchenfenster waren schnörkellos, und geschwungene Striche deuteten Verzierungen an. Der Boden war in einem kreisförmigen Muster gekachelt. Ich habe jede Menge schönere Kirchen gesehen, doch mit dieser Kirche in meinem Heimatort verbinden mich die meisten tragenden Erinnerungen. Als Messdiener und Vorbeter. Und als Relikt aus einer grauen Vorzeit, als die Kirche im Dorf noch so etwas wie Hörigkeit oder Autorität verkörperte.
Nach der Messe begaben sich die Trauenden vor die Kirche. Die Lippen blieben stumm, und den Weg zum Friedhof legten alle wortkarg zurück. Langsam schlurften die Schritte vorwärts. Vor der Friedhofsmauer erspähte ich das Grab meiner Großeltern, von dem ich nicht mehr wusste, wann ich es das letzte Mal besucht hatte (1975 und 1987 waren die Großeltern gestorben). Vor dem eisernen Gitter des Friedhofs erwartete uns der Leichenwagen mit Onkel H.’s Urne.
Spätestens, als ich den Leichenwagen sah, wusste ich nicht, wie ich mich fühlen sollte. Sonst vermied ich Bedrückung oder schwermütige Gedanken. Nun war mir die Gelassenheit abhanden gekommen. Ich tat mich schwer, meinen Seelenzustand auf einem ausgeglichenen Niveau zu halten.
Für meine Tante, meinen Cousin mit Frau und Sohn, für meine Cousine mit ihrem Mann, war das schlimm. Natürlich auch für die übrigen Anverwandten. Gemessenen Schrittes wandelte die Trauergemeinschaft zum Grab. Ein Wind pustete, der schon an die Stürme des Herbstes erinnerte. Die Sonne spinste zwischen daher brausenden Wolkenfetzen hindurch. Hinter dem Friedhof erstreckten sich die Weiten des Niederrheins. Felder rollten vom Ortsrand weg. Grenzenlos konnten Wirtschaftswege in Felder und Mischwald hinein stoßen. Sie zogen Radfahrer und Spaziergänger gleichermaßen an, wodurch sich die Ruhe der wohl geformten Landschaft noch verstärkte.
Die Urne wanderte ins Grab, das von Kränzen und Blumen umgeben war, die vor lauter Farben nur so strotzten.
„Von Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du werden. Wir aber hoffen auf unseren Herrn Jesus Christus, der da spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich der wird nimmermehr sterben.“
sprach die Pastorin, warf einen Krumen Erde ins Grab und überließ dieses den Trauernden.
Allen voran meine Tante, nahmen sie Abschied, wobei jede Masse Tränen flossen. Kurze Zeit später, auf dem rot geschotterten Weg, drückte ich Tante, Cousin, Cousine nebst Ehefrau und Sohn und Ehemann ganz fest. Ich empfand eine bedrückende Ohnmacht vor dem Schicksal und konnte meine eigenen Tränen nicht vollständig zurückhalten. Aber ich war froh, mit einem großen Teil meiner Familie dabei zu sein und unsere gemeinsame Anteilnahme zu zeigen. Während viele Trauergäste noch wie angewurzelt da standen, entspannte sich in manchen Gesichtern die Situation. Es kam mir vor wie bei einem Gewitter, bei dem die dunkle Zelle mit Blitz und Donner über einem hinweggezogen war, aber es regnete noch kräftig und in der Ferne zeigte sich blauer Himmel.
Zum Kaffee. Die Trauergemeinschaft schlenderte zur Gaststätte im Sportlerheim. Es war vorbei. Die Verkrampfung lockerte sich. Die ersten Gesichter hatten sich aufgehellt. Memento mori. Die einzige Gewissheit im Leben eines Menschen ist der Tod. Alpha und Omega. Werden und Vergehen. Nicht erst jetzt, begriff ich das Leben als ständig wiederkehrenden und sinnstiftenden Kreislauf.