Mittwoch, 12. Dezember 2012

Glockentürme (7) - Lakenhal in Ieper / Belgien


Katzen von einem Glockenturm herunter werfen ? Das klingt unglaublich, es ist aber eine jahrhundertealte Tradition in Ieper in Belgien.

Zwischen 1200 und 1304 erbaut, ist die Lakenhal (=Tuchhalle) von Ieper eine der größten profanen Gebäude Europas im gotischen Stil. Die Lakenhal verkörpert bis heute Glanz und Größe der ehemaligen Hansestadt, die gemeinsam mit Brügge und dem Wissen der Kaufleute reich geworden ist. Etwa 50 Kilometer südlich von Brügge gelegen, könnte man Ieper als kleine Schwester von Brügge vergleichen, wenngleich der Reichtum dieser Schwester-Stadt im Mittelalter immens gewesen sein musste.

Ieper wuchs und gedieh ab dem 11. Jahrhundert, als sich über die Hansestädte Warenmärkte in ganz Europa öffneten. Der Seehandel blühte auf mit größeren Verladekapazitäten auf den Koggen, Kompaßkarten erleichterten die Navigation, feste Steuerruder setzten sich im Heck durch, mit größeren Segelflächen gelang es immer besser, gegen den Wind zu segeln. Kostbare Waren wie Stoffe, Glaswaren, Porzellan, Waffen, Gewürze, Wein oder auch Tuche wurden zu Wasser transportiert. Die Wirtschaftsräume von Ostsee und Nordsee wurden miteinander vernetzt, der Fernhandel wurde von Exportgewerbeorganisationen dominiert. Die Fernhandelskaufleute leiteten ihre Geschäfte von einem Handelskontor aus.

Im Schatten der Nordsee, war Flandern durchzogen von Flussniederungen, die ideale Anbaubedingungen für Flachs boten. Über den Handelsverkehr wurde zudem aus dem nahen England Wolle importiert. Aus Flachs wurde Leinen gesponnen. Die Tuchmanufakturen in Flandern spezialisierten sich auf hochwertige, schwere Tuche, die in ganz Europa reißenden Absatz fanden. Die Tuchproduktion lief auf Hochtouren, in jeder Türöffnung der Lakenhal wurden diese zum Verkauf angeboten. Die Fernhandelskaufleute organisierten Verkauf und Schiffstransport und erzielten schwindelerregende Gewinnspannen, so dass die Hansestädte Flanderns zu den reichsten Europas gehörten.

1692 wurde in Ieper die Turmspitze auf dem siebzig Meter hohen Belfried in ihrer heutigen Form erbaut. Gestaltet mit einem durchbrochenen Helm und einem Drachen, befindet sich in dem Glockenturm ein Glockenspiel mit 49 Glocken. Im ersten Weltkrieg wurde die ganze Stadt mitsamt der Lakenhal zerstört und in den folgenden Jahrzehnten originalgetreu wieder aufgebaut. Heutzutage spielt das Glockenspiel jede Viertelstunde das flämische Stück „het Iepers tuindaglied“.

Als der Zugang zur Nordsee versandete, teilte Ieper dasselbe Schicksal mit Brügge. Polder schoben sich ins Meer hinein, die keine Fahrrinne für ausreichend breite Kanäle freiließen. Das war ungefähr im 17. Jahrhundert. Der Handel mit Tuchen kam zum Erliegen, die Städte hinter dem zurückgewichenen Meer verarmten und versanken in Bedeutungslosigkeit.

In dieser Epoche entstand das Ritual, Katzen vom Glockenturm herunter zu werfen. Es war die dunkle Zeit von Aberglauben, Hexerei und Ketzerei. Katzen streunten so zahlreich herum, dass sie zur Last wurden, und man brachte sie mit Hexen in Verbindung. Katzen schärften die Vorstellungskraft, so dass die Menschen in Ieper Zeichen von schwarzer Magie sahen: schwarze Katzen liefen ihnen über den Weg, die dunkle Wolken aufwirbelten, und in diesen dunklen Wolken steckte der Teufel.

So entstand im 17. Jahrhundert der Brauch, Katzen vom siebzig Meter hohen Glockenturm in Ieper herunter zu werfen, um den Teufel zu vertreiben. Ähnlich wie bei Hexen, wurden sie in einem grausigen Schauspiel anschließend auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Im Lauf der Jahrhunderte griff der Geist der Aufklärung um sich, so dass sich die Menschen in Ieper der Brutalität ihres Vorgehens bewusst wurden. Fortan wurden nur noch Plüschkatzen vom Glockenturm geworfen.

In den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich daraus der „Kattenstoet“, eine Art von Volksfest mit einem Festumzug durch Ieper, bei dem sich alles um Katzen dreht. Diese Tradition des „Kattenstoet“ wird bis in die heutige Zeit im Drei-Jahres-Rhythmus fortgeführt.

Riesen marschieren bei dem Umzug im Mai mit, ähnlich wie im rheinischen Karneval schlüpfen jede Menge Fußgruppen und Musikkapellen in Katzenkostüme, auf geschmückten Wagen wird die Rolle von Katzen in der Geschichte, in fremdländischen Kulturen und in Legenden erzählt.

Der Höhepunkt nähert sich alle drei Jahre, wenn ein Stadtnarr in einem Narrenkostüm Plüschkatzen von dem siebzig Meter hohen Glockenturm hinunter wirft. Dann ist die Begeisterung der Menschenmenge auf dem Groten Markt nicht mehr zu bremsen.


4 Kommentare:

  1. danke für die Info und den Film dazu.
    Gut dass jetzt nur noch Plüschkatzen vom Turm geworfen werden.
    lieber Gruß von Heidi-Trollspecht

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  2. Das ist ein gigantisch tolle Kirche, gefällt mir.
    Danke für den geschichtlichen Hintergrund, interessant.
    Gut das heute nur noch Stofftiere geworfen werden.
    Ein toller Film, hab jedoch nur ein Stückchen geguckt.

    liebe gute Nacht Grüße
    Angelika

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  3. Hej Dieter,
    das Gebäude erinnert mich sehr stark an "Houses of Parliament " in London. Ich dachte zunächst, Du warst in Londen :-)
    Die Katzentortur beweist einmal mehr, dass der Mensch DAS Raubtier an sich ist, sogar fähig, sich gegen die eigene Art zu richten.
    Wieder ein sehr interessanter Bericht von Dir!

    Gruß
    Beate

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  4. Danke für deinen interessanten Bericht, Dieter!
    In solchen Momenten bin ich immer besonders glücklich, dass ich nicht der damaligen Zeit leben musste...und der Aberglaube heute so gut wie kein Thema mehr ist :))
    Oh, so viel Stress habt ihr im Moment...aber sicher bekommt ihr trotzdem alles auf die Reihe, auch wenn es nicht ganz so perfekt ist wie unter der Obhut von Mama. Herzlichst Zaunwinde

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