Sonntag, 30. Juni 2013

Jesus lebt !

Der Aufschrei nach Religion erscheint in der Hilflosigkeit eines Glaskastens. Häßlich, am Rande des Bonner Lochs, führt der Weg vom Hauptbahnhof in die Fußgängerzone hinein. Der Sumpf der Drogenabhängigen hat sich zum nächsten U-Bahn-Eingang verschoben. Der Glaskasten, in dem sich lange Zeit Imbißbuden behauptet hatten, ist wie zugemüllt mit Plakaten. Sie wuchern, kleben sich wild aneinander. Religion auf Augenhöhe mit Verfall und Häßlichkeit ? Kirche, Gott, Glaube, Jesus lebt, in diesem abweisenden Umfeld wirkt der Aufschrei nach Religion deplaziert und anziehend zugleich.


Wild zusammengeklatscht, passt die Kombination nicht zusammen: Religion und Disco …


… Religion und Gothic-Szene


… inmitten der Party-Szene dürfte die Religion untergehen …


In diesem tristen Umfeld gehen die Botschaften der Bibel unter.


Aber sie appellieren …


… und zitieren die Bibel mit genauen Textstellen.


Schließlich verschwinden sie wieder zwischen den Geschäften des Alltags. Was bleibt von diesem Aufschrei der Religion ?

Samstag, 29. Juni 2013

Kaiser-Wilhelm-Denkmal


Alleine die Idee, das Denkmal auf dem Heumarkt aufzustellen, war eine Provokation. Nun, bei der Enthüllung, drängelte sich die Prominenz auf dem menschenüberströmten Platz. Die Wolken segelten tief an diesem Spätsommertag des 28. September 1878. Der Deutsche Kaiser, der zwischen einer Menschentraube und seiner Leibgarde verschwand, hatte es sich nicht nehmen lassen, höchst persönlich dieses Denkmal einzuweihen.

Die Kölner Bürger betrachteten das Geschehen argwöhnisch. Was enthüllt werden sollte, sahen sie als merkwürdige Prozedur, einen schlechten Karnevalsscherz oder als unabwendbares Schicksal.  Stille mischte sich in eine allgemeine Neugierde hinein, Augen reckten sich in die Höhe. Dann stand die Leibgarde still, Säbel rasselten, die Kürassiere drehten ihre Köpfe zum Kaiser. Die Kölner warteten der Dinge ab, die kommen sollten. Bis der Oberbürgermeister das Wort ergriff: „Im Namen aller Kölner und aller anderen, die bei diesem festlichen Ereignis dabei sind, begrüße ich seine Kaiserliche und Königliche Majestät. Kaiser Wilhelm lebe hoch ! hoch ! hoch !“ Erst jetzt brachen die Dämme, der Jubel stürmte dem Kaiser entgegen und alle Kölner Bürger schlossen ihn in ihr Herz.

Die Kölner Bürger waren reserviert, denn seit der Jahrhundertwende um 1800 hatten sie nichts anderes gekannt, als von fremden Mächten besetzt zu sein. Zunächst waren es die Franzosen, bis 1814 mit dem Untergang Napoleons die Preußen einmarschierten. Die Symbiose zwischen Rheinländer  und Franzosen klappte besser als mit den Preußen. Frankreich brachte einige Segnungen mit – eine funktionierende Justiz, klare Verwaltungsstrukturen oder eine durchgreifende Agrarreform -, während Preußen nur aus Militär und Drill bestand. Mit den Preußen sahen die Menschen ihren inneren Antrieb in soldatischen Tugenden: Methode und Ordnung, Disziplin und Ausdauer, Gemeinschaft und Unternehmungsgeist fanden sie in der Armee.

Nach 1815 war Preußen ein merkwürdiges Gebilde mit  einem Kernbereich östlich von Brandenburg und Berlin und dem Anhängsel der Rheinprovinz im Westen. Köln sollte zum Bollwerk gegen Frankreich ausgebaut werden, eine Pufferstadt, an denen sich der Erzfeind jenseits des Rheins die Zähne ausbeißen sollte. Die Preußen gaben dem heutigen Militärring ihren Namen: achtzehn Festungen reihten sich linkrheinisch aneinander, das waren alle 500 Meter eine Festung. Darüber hinaus ? Die demokratischen Ideen der französischen Revolution wehrten die Preußen systematisch ab. So wurde bei Wahlen bis zum 1. Weltkrieg ausschließlich das Dreiklassenwahlrecht gehandhabt – also: wer mehr Geld besaß, hatte mehr Stimmrechte und die Stimmen der arbeitenden Bevölkerung fielen kaum ins Gewicht. 1848, mit den revolutionären Bewegungen des Vormärz knüppelten die Preußen diese Ideen von Freiheit und Demokratie einfach nieder. Sie verfolgten und bespitzeltenn die intellektuellen Wortführer, sie überwachte sie polizeilich, ihnen drohte das Gefängnis. Gottfried Kinkel, Ferdinand Freiligrath oder Carl Schurz flohen aus dem Rheinland. Zeitungen wurden zensiert.

Die Chemie zwischen Preußen und Kölnern stimmte nicht. Den Kölner widerstrebte es, Entscheidungen von oberster Ebene aufgezwungen zu bekommen und nicht mitreden zu dürfen. Die Preußen wiederum beklagten den lauen Charakter, die gemächliche Lebensführung und das Fehlen einer entscheidenden Tatkraft.

Im Endeffekt zog sich der Bau des Denkmals auf dem Heumarkt 23 Jahre in die Länge. 1855 hatte der damalige Oberbürgermeister von Köln die erste Idee. 1860, als ausgeschrieben wurde, fand sich aber kein Bildhauer, weil die Kölner Künstler kein Interesse zeigten an der Darstellung von irgendwelchen Feldherren. 1864 fand man schließlich zwei Bildhauer, das waren Hermann Schaevelbein und Gustav Blaeser. Entgegen dem Konzept des Kölner Rates schafften sie es aber, mehr Zivilisten als Feldherren darzustellen. Scharnhorst, Blücher oder Gneisenau, das war die Feldherrenabteilung  Denen standen Denker und Intellektuelle wie Heinrich von Kleist, Wilhelm von Humboldt oder Karl Schuler gegenüber. Zwischenzeitlich starben Blaeser und Schaevelheim, so dass das Denkmal erst 1878 vollendet wurde und durch Kaiser Wilhelm I eingeweiht wurde. Kaiser Wilhelm I. sollte das Denkmal seines eigenen Vaters Friedrich Wilhelm III. enthüllen.

Ein festliches Spektakel nahm seinen Lauf.  Der Kaiser setzte zu einer flammenden Rede an: „Liebe Kölner Bürger ! Ich freue mich, zu diesem besonderen, bewegenden Augenblick in Eurer Stadt zu sein und begrüße Euch im Namen des Deutschen Volkes. Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit haben sich über den Globus verbreitet. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland geschaffen hat. Mit der Herrlichkeit unseres Vaterlandes sehen wir einer segensreichen Zukunft entgegen …“ Manche schauten wie gebannt, andere zerstreuten sich, andere hörten weg, weil sich Einheit und Patriotismus in einer Endlosschleife wiederholten. Die Rede des Kaisers strotze vor Kraft, die aus Luftblasen und hohler Rhetorik bestand . Schlaff hing sein Backenbart herab. Die Demonstration von Stärke und Macht zerrann in einem undefinierbaren Rheinland, das sich wie Katze und Maus mit Preußen vertrug.

Erst unter Kaiser Wilhelm II, seinem Sohn, lockerte sich das Verhältnis zwischen Preußen und Rheinland. Er war volksnäher, ging auf die Rheinländer zu, die Rheinländer waren ihm nicht mehr suspekt. Aber protzige Denkmäler aus der Kaiserzeit konnte das Rheinland nicht aufhalten – wie übrigens im Rest der Republik.

Solchen Provokationen aus einer Epoche, in denen der Kaiser angehimmelt wurde wie heutzutage Pop-Stars, wird man flächen deckend begegnen. Es war eine Zeit, in denen die Menschen noch Ideale in Obrigkeitshörigkeit und Gehorsam bis zur Aufopferung gesucht haben. 


Dienstag, 25. Juni 2013

die Kontinentalsperre und Aachener Printen


Printenmann auf dem
Aachener Weihnachtsmarkt
Quelle: Wikipedia
Große Feldherren neigen zur Verblendung. Der Seemacht England unterlegen, waren die Machtverhältnisse in der Schlacht von Trafalgar 1806 zurechtgerückt worden. Der Expansionsdrang Napoleons war im Mittelmeer gestoppt worden, nachdem er diese Schlacht verlor. Doch Napoleon wollte die Revanche: er verhängte in demselben Jahr 1806 eine Kontinentalsperre gegen England. Nordsee, Ärmelkanal und Atlantik sollten zum Eisernen Vorhang werden, die Warenflüsse in den englischen Inselstaat sollten zum Erliegen kommen, der Krieg zu Land und zu See sollte zu einem Wirtschaftskrieg ausgeweitet werden.

England zeigte sich unbeeindruckt, denn es hatte in Übersee ein umfassendes Kolonialreich. Der Handel blühte, besonders eng waren die Wirtschaftsbeziehungen mit Amerika. Napoleon hatte sich verschätzt, denn er traf mit diesem Racheakt nicht den englischen Feind, sondern die Verbündeten auf dem europäischen Festland. Auch das Rheinland zählte zu seinen Verbündeten.

So hatten sich ab dem 15. Jahrhundert Handwerker aus dem Maastal in Belgien in Aachen nieder gelassen, die aus Messing Schmiedearbeiten ausführten – sogenannte „dinanderies“. Sie schmiedeten Formen, die sie auch zum Backen verwendeten. Mit den Backformen importierten sie das Gebildebrot, das sie im Maastal „couques de Dinant“ nannten. Das Gebildebrot, eine Variante des Lebkuchens, war der Vorläufer der heutigen Aachener Printen. Aus Mehl, Honig und handverlesenen Gewürzen wurde ein zäher Teig geknetet, der in Messingformen gepreßt wurde und anschließend gebacken wurde. Für dieses Hineindrücken des Teiges in die Ausstechformen verwendeten die Bäcker das englische Wort „print“, woraus das deutsche Wort „Printe“ entstand.

Eier und Margarine fehlen in dieser Teigmasse für Printen. Anstatt dessen verleihen Honig und Zutaten wie Pottasche, Vanillezucker, Zimt, Anis, Nelken, Koriander und Ingwer den würzigen Geschmack. Da Eier und Margarine fehlten, musste beim Backen darauf geachtet werden, dass die Printen weder zu hart wurden, dass sie kaum noch durchgebissen werden konnten, noch zu weich, dass sie Zähne und Mund verklebten. So entdeckten die Aachener Bäcker im 18. Jahrhundert, dass, wenn sie Wildblütenhonig der Teigmasse beifügten, die Printen genau die richtige Konsistenz besaßen  zwischen Hart und Weich.

Sie verwendeten vorzugsweise Wildblütenhonig aus Amerika. Als Napoleon 1806 England mit der Kontinentalsperre abstrafte, war dies Pech für die Aachener Printenbäcker, denn der amerikanische Wildblütenhonig konnte nicht mehr importiert werden. Die Qualität des heimischen Honigs war Lichtjahre entfernt von demjenigen aus Amerika. Was tun ?

Nicht die Seemacht England bekam die Kontinentalsperre zu spüren, sondern neben den Aachener Printenbäckern der Handel und die heimische Industrie. Es wurde weniger Fracht in den Häfen umgeschlagen, die Hansestädte verarmten. Die rheinische Textilindustrie musste Ersatz suchen für Baumwolle aus Amerika. Der Export von Holz kam zum Erliegen. Arbeiter rebellierten in Häfen und Fabriken.

Die Aachener Printenbäcker suchten, forschten, experimentierten und konzentrierten sich darauf, was die heimische Landwirtschaft hergab. Sie entdeckten den Rübensirup, der den Printen eine ähnliche Konsistenz verlieh wie der Wildblütenhonig aus Amerika. Rübensirup war krisensicher, denn auf heimischen Feldern gab es Zuckerrüben in Hülle und Fülle. Er hatte außerdem den Vorzug, dass die braune Färbung der Printen intensiver wurde.

Im Endeffekt sorgte die Kontinentalsperre für den Durchbruch der Aachener Printe, denn die Bäcker besannen sich auf heimische Rohstoffe, die preisgünstiger waren. Neben amerikanischem Wildblütenhonig verwendeten die Bäcker bis zur Kontinentalsperre 1806 auch Zuckerrohr aus Brasilien, so dass die Printe ein edles Gebäck für gut betuchte Reiche und Adlige war. Mit dem Rohstoff der Zuckerrübe sanken die Preise für Printen, so dass sich auch eine Arbeiterfamilie die eine oder andere Printe zu festlichen Anlässen leisten konnte. 1899 wurde die Aachener Printe als Wortmarke beim Patentamt angemeldet.

Ähnlich wie Lebkuchen in Nürnberg, sind in Aachen kleine und große Geschäfte vorzufinden, dessen Vielfalt an Printen unüberschaubar ist. Selten ist die Kombination von Café und Printe. 1890 eröffnete der Printenbaron van den Daele nicht weit vom Dom entfernt eine Konditorei. Möbliert im Stil des Aachen-Lütticher-Barock, ist die Printenherstellung in dem Alt-Aachener Kaffee-Haus heutzutage lebendig. Teile der Konditorei aus den Jahren nach 1890 haben die Inhaber belassen. Als Wandschmuck dienen Original-Printen-Backformen.


Den Gebäck- und Printenfabrikanten rund um Aachen geht es heutzutage nicht schlecht. Sie produzieren über das ganze Jahr nicht nur Printen. Sie waren zu Kreativität verdammt, angestoßen durch Napoleons Kontinentalsperre. Mit Einfällen haben sie Krisenzeiten gemeistert.

Sonntag, 23. Juni 2013

Wissenschaftsschiff

Vier Tage lang hatte das Wissenschaftsschiff auf dem Rhein angelegt und es konnte besichtigt werden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung ist Besitzer des Wissenschaftsschiffs. Unter Deck habe ich eine Ausstellung besucht, in der es um demografische Entwicklungen in der Gesellschaft ging, insbesondere dass unsere Gesellschaft immer älter wird.




Dies ist das Wissenschaftsschiff von fern und von nah.


Den steigenden Anteil älterer Menschen kann man aus der Alterspyramide ablesen.


Der Anteil der Rentner wird in demselben Umfang steigen.


Das Alter des Menschen wird verglichen mit anderen Lebewesen.



Die Medizin ist Ursache und Wirkung zugleich, dass die Menschen gesünder und älter werden.


Die demografische Verschiebung zu älteren Menschen verändert die Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft. So sind zum Beispiel Marketing, Werbung und Produkte auf den Lebensstil älterer Menschen auszurichten, um diese zu erreichen.


Neue Produkte für ältere Menschen werden auf den Markt kommen. Navigationsassistenten für Rollatoren …


… oder mobile Notfallassistenzen …


… oder sensorische Technik, womit Schalter eingeschaltet werden können oder Haushaltsgeräte bedient werden können.


Es gibt sogar Zukunftsvisionen einer barrierefreien Stadt für Ältere.


Jung und alt finden sich symbolisch auf dem Schiff zusammen.

Freitag, 21. Juni 2013

Papa ?

Ich vertiefte mich in meine Zahlen wie in einer Klausur. Abgeschottet, lief meine Konzentration auf Hochtouren. Aus einem Gebirge von Zahlen suchte ich Kernaussagen, die einen Kern von Wahrheit beinhalteten. Ich drehte, wendete, beleuchtete das Zahlenmaterial von allen Seiten, extrahierte. Ich schärfte meinen Blick für das wesentliche.

Ich bemerkte nichts, neben unserem Bürogebäude hätte eine Bombe einschlagen können. Nichts hätte mich aus diesem fernen Zustand, in dem mich all meinen Verstand in die Waagschale schmiß, herausreißen können.

Es ist nicht nur mit zunehmendem Alter, auf Geräusche habe ich schon immer sensibel reagiert. Das Telefon klingelte in meinem Büro. Dem vernetzten Internet-Zeitalter entsprechend, riß mich das Internet-Telefon auf meinem Schreibtisch aus diesem Höchstmaß an Konzentration. Es klingelte dumpf, hartnäckig. Unbekannt verschleierte die fehlende Rufnummernanzeige den wahren Anrufer. Weil mich der Klingelton an einen schlechten Hupton erinnerte, fühlte ich mich genötigt abzuheben. Trotz fehlender Rufnummernanzeige, denn diese Anrufe sortierte ich direkt in die Kategorie „unwichtig“.

Ich hob ab, meldete mich mit meinem Namen, den ich wegen des Abbruchs meiner Phase finaler Einsichten bewußt mit meiner undeutlichen Aussprache schluderte. Immerhin signalisierte mir die fehlende Rufnummernanzeige, dass es wieder mein Chef, noch meine Abteilungsleiterin, geschweige denn unser Geschäftsführer sein konnte. Die wichtigsten Anrufe, die von meiner Göttergattin kamen, konnten es genauso wenig sein.

Als sich die Telefonleitung einige Sekunden wie tot anhörte, meldete sich mein Gesprächspartner.
„Papa ?“

Kannte ich nicht. Es war eine unsichere Jungenstimme, die sofort von der Vergänglichkeit des Augenblicks erstickt wurde. Unser Sohn war es definitiv nicht. Bei ihm wäre Frage auf Frage gefolgt, denn er hätte ein Ziel seiner Fragerei im Hinterkopf gehabt. Außerdem war die Stimme unseres Sohnes tief, die den Stimmbruch in vollem Umfang durchlaufen hatte.
„Papa ?“ hakte die Jungenstimme irritiert nach.

Das war irrational. Nicht jeder x-beliebige hatte die dienstliche Telefonnummer in meinem Büro. Ich war nicht weniger irritiert, dass sich ein Sohn meldete, der gar nicht mein Sohn sein konnte.
„Papa ?“ die Jungenstimme blieb hartnäckig. Sie klammerte sich an meiner Stimme fest und gewann an Überzeugung.
„Sind Sie nicht mein Vater ?“

Sprachlos hielt ich den Telefonhörer in der Hand. Spontan gingen mir Politiker durch den Kopf, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen. In irgendwelchen dunklen Ecken verbargen sie ihre unehelichen Kinder. Beispiele gingen mir durch den Kopf: ein Horst Seehofer in einem erzkatholischen Bayern, ein Francois Mitterrand als Denkmal eines französischen Präsidenten, von Lüstlingen wie Silvio Berlusconi ganz zu schweigen. Dabei hatte ich es gar nicht nötig, in diese Kategorie eingeordnet zu werden. Ich hatte ein vollkommen reines Gewissen, kein Fremdgehen, auch keine unehelichen Kinder im Verborgenen.

Ich konnte also ein aufrechtes Telefongespräch führen, ich brauchte keine unseligen Erinnerungen an dunkle Kapitel meiner eigenen Vergangenheit zu fürchten. Ich versuchte, Licht ins Dunkel hinein zu bringen.
„Wer ist denn Dein Vater ?“ ich war mir selbst unsicher. Weniger wegen der Vaterschaft, sondern ob es richtig war, meinen Gesprächspartner zu duzen. Ein beklemmendes Schweigen entstand , mit dem unsere menschlichen Verbindungen abzureißen schienen.

„Wie heißt denn Dein Vater ?“ … „Matthias.“

Matthias saß ein Büro weiter. Ich wusste, dass er einen Sohn im jugendlichen Alter hatte. Er signalisierte, dass ich das Gespräch weiterleiten sollte. Alles klärte sich also innerhalb von Sekunden.

Wie kam sein Sohn an meine Telefonnummer ? Für seine Familie hatte mein Arbeitskollege eine Liste wichtiger Telefonnummern angefertigt. Falls er unter seiner dienstlichen Telefonnummer nicht erreichbar sein würde, hatte er Ersatz-Telefon-Nummern von mehreren Arbeitskollegen aufgelistet. Vielleicht war die dienstliche Nebenstellenanlage defekt, so dass er telefonisch nicht erreichbar war. Daher telefonierte sein Sohn die Nachbar-Büros ab – und landete bei mir.
Seine Stimme war ein ominöses Erlebnis. Meine Bedenken waren in Sekundenschnell in einer Luftblase zerplatzt. Easy livin‘. Mögen Vater und Sohn in diesem Telefongespräch miteinander klar gekommen sein.

Donnerstag, 20. Juni 2013

Siebengebirgsmuseum

Bei 36 Grad Außentemperatur war der Museumsbesuch ein Geheimtipp. Draußen heizte die Sonne ein, als befände ich mich in einem Backofen. Die Hitze staute sich in den Gassen, brachte jede Bewegung zum Erliegen, und selbst auf dem Rennrad brachte der Fahrtwind keine Abkühlung. Ich bog ab, steuerte auf das stattliche Herrenhaus des Siebengebirgsmuseums zu.


Dass ich Museen und Ausstellungen zu sehen bekomme, ist positiver Nebeneffekt des Bloggens. Neugierig wie ich bin, vermitteln Museen und Ausstellungen Tiefenbohrungen in Dinge hinein, die ich so oft betrachten kann, wie ich möchte. Dabei halte ich es wie mit Kirchen: die großen Dome und Kathedralen überwältigen mich, während kleine Kirchen – oder kleine Museen – genauso große Schätze bewahren. Sie sind greifbarer, übersichtlicher, einfacher zu durchdringen.

Die Klimaanlage war genial. Sie kühlte die Räume im Erdgeschoss, in denen die Sonderausstellung „Rheinromantik" zu sehen war, auf angenehme Temperaturen herunter. Ich durfte nicht fotografieren, anstatt dessen war aber die Hitze verflogen. Die Sonderausstellung belegte, dass Anfang des 19. Jahrhunderts ein regelrechter Rheintourismus eingesetzt hatte. Hotels, Gaststätten und Pensionen boomten. Aus ganz Europa reisten Künstler, Schriftsteller, Dichter, Maler, Intellektuelle und Adlige heran. Der Rhein inspirierte sie – wobei sich die Maler in wunderbaren Gemälden verewigten. Schneider, Schütz, Diezler, die Namen dieser Maler sagten mir nichts und ich werde sie schnell wieder vergessen. Mit kühlem Kopf konnte ich den Rhein und seine Burgen als wiederkehrendes Motiv betrachten. Im Obergeschoss hingen dann Gemälde in demselben Stil der „Rheinromantik“, die ich fotografieren durfte.



Als akademischer Zeichenlehrer an der Universität Bonn, malte Nikolaus Christian Hohe Mitte des 19. Jahrhunderts die steinerne Kulisse des Siebengebirges. Romantisch und verträumt, stand der Rhein im Mittelpunkt schöner Landschaften.

Das Siebengebirge war mehr als ein Werbeplakat für Rhein und Tourismus. So führte die Dauerausstellung im Obergeschoss querbeet durch die Facetten des Siebengebirges: der Denker Cäsarius von Heisterbach, Schiffahrt auf dem Rhein, Gesteinsarten, Burgen oder fränkische Gräberfunde. Mein Weltbild wurde auf den Kopf gestellt, was ich zu steinzeitlichen Besiedlungsformen wusste. In Uhldingen am Bodensee hatte ich gelernt, dass die Menschen in der Steinzeit am Seeufer oder an Flüssen siedelten. Im Siebengebirge war dies genau umgekehrt. So wurden beim Neubau der ICE-Strecke hinter Thomasberg Werkzeuge (Axt, Meißel, Steinbeil) aus der Steinzeit gefunden. Thomasberg liegt aber auf der vom Rhein abgewandten und windgeschützten Seite des Siebengebirges.  

Ich fand meine Idee genial, vor der Hitze in ein Museum zu fliehen. Ein leiser Luftzug säuselte an mir vorbei und kühlte die Schweißperlen auf meiner Stirn. Den Preußen war zu danken, dass es das Siebengebirge, wie wir es heute kennen, noch gibt. Als der Kölner Dom seiner Vollendung entgegen strebte, wurden große Massen an Gestein aus dem Siebengebirge dort verbaut. Das Siebengebirge drohte mit den Steinbrüchen regelrecht ausgehöhlt zu werden. Felsformationen wie in einem löchrigen Käse wären übrig geblieben. 1836 kaufte die Preußische Verwaltung der Rheinprovinz den Drachenfels und dämmte Stück für Stück den Raubbau an der Natur ein. 1914 wurden alle Steinbrüche still gelegt, 1923 wurde das Siebengebirge eines der ersten Naturschutzgebiete in Deutschland.

Ein Modell zeigte, dass im 19 Jahrhundert in den Steinbrüchen praktisch nichts automatisiert war. Der Rheinländer Friedrich Engels hätte also nicht nach England reisen müssen, um sich ein Bild über katastrophale Arbeitsbedingungen zu machen. Die Lage der arbeitenden Klasse im Siebengebirge war zerquält, es war reine Schufterei, tonnenschwere Lasten mussten quer durch die Berge bewältigt werden, Arbeitsunfälle und Frühinvalidität müssen die Regel gewesen sein. Dennoch habe ich keinen schalen Beigeschmack, wenn ich mir heutzutage das Wunderwerk des Kölner Doms betrachte.

Die Tür zur Dachterrasse war geöffnet. Die Hitze schlug mit entgegen, als ich nach draußen trat. Die Kühle in den Innenräumen war eine Insel des Wohlfühlens. Dennoch: der Blick über die Dächer von Königswinter überwältigte mich. Hinterhöfe gruppierten sich, wie ich sie in Vorstädten wie Köln-Ehrenfeld kannte, Häusergiebel aus braunem Klinker bröckelten vor sich her, dahinter überragte die Ruine des Drachenfelses die Stadt. Skulpturen von Ernemann F. Sander waren auf der Dachterrasse ausgestellt, die Arbeiten aus Bronze drehten sich um das Kloster Heisterbach.


Das Siebengebirgsmuseum verschaffte Bildung in kleinen Dosen. Ich fühlte mich nicht erschlagen von der Fülle an Gemälden, Exponaten oder kultureller Substanz. Kurzum ein Museum mit Wiedererkennungswert. Als ich meinen Besuch beendete, erschlaffte ich in der Hitze. Die Räumlichkeiten des Museums, die sich gegen die Hitze behauptet hatten, hatte ich verlassen.

Nicht nur wegen der Klimaanlage, werde ich anregende Erinnerungen in meinem Gedächtnis behalten.

Dienstag, 18. Juni 2013

KUNST!Rasen

Ein Hauch von Woodstock, Freiheitsgefühl, Frieden, Verständnis und grenzenlose Liebe schwappte herüber. Open-Air-Konzert: das Wetter spielte mit, die Sonne lachte, die Menschen waren gut gelaunt, am Freitag konnte die Konzertsaison des KUNST!Rasens im Freien eröffnet werden. Brings war die erste Band, die die Besucher in Hochstimmung versetzen sollte. Ich wundere mich über mich selbst, dass mein Interesse an Rock-Konzerten verflogen ist. Led Zeppelin, U2, AC/DC, Manfred Mann’s Earth Band, Marillion, Status Quo, Simple Minds, diese Konzerte waren in den 80er Jahren gigantische Erlebnisse ! Vor drei Jahren habe ich die Scorpions Live erlebt, doch nun zieht mich nichts mehr zu Konzerten hin. So habe ich nicht nur Brings verpasst, sondern ich werde auch Crosby, Stills and Nash oder BAP verpassen. Ist ja auch mit rund 50 € für einen Stehplatz (und aufwärts) verdammt schön teuer. Wenn ich Lust bekomme, lege ich zu Hause eine CD rein. Oder ich zappe bei youtube.



Wenn ich den Bühnenaufbau betrachte, bekomme ich gute Laune.



Die Gerüstbauer haben ordentlich zu tun.


So sieht die unfertige Bühne von hinten aus.


Generatoren schaffen Licht und Strom. 



Die Logistik ist riesig, denn es muss auch für ausreichend Getränke gesorgt sein.

Montag, 17. Juni 2013

Braunkohletagebau

Aussichtspunkt Garzweiler II
Die Zeitrechnung geschieht nicht in Jahrzehnten oder Jahrhunderten, sondern liegt jenseits aller Vorstellung. Vor zehn Millionen Jahren formte sich die Braunkohle. Die Dinosaurier waren längst ausgestorben. Bis der Mensch, der Homo sapiens, die Erde betrat, sollten noch weitere neun Millionen Jahre vergehen. Vor diesen 10 Millionen Jahren war die Niederrheinische Bucht purer Urwald, undurchdringlich. Sträucher, Farne, Schling-, Moorpflanzen, Birken, Weiden, Lorbeerbäume, das waren die Rohstoffe, aus denen sich Millionen Jahre später die Braunkohle bilden sollte.

Braunkohle, dieses Konglomerat aus Wasser, Holz und Pflanzen war Jahrhunderte lang ein Mittelding zwischen Torf und Steinkohle. Anfangs hieß dieses Mittelding Torf, es war mit einem Wassergehalt von bis zu 60% zum Heizen ungeeignet und fristete ein Schattendasein neben der Steinkohle. Erst 1816 bildeten die Preußischen Bergbehörden die Wortschöpfung „Braunkohle“, um dieses Mittelding vom Torf unterscheiden zu können. Torf, braune Farbe, Kohleflöze, die Preußen machten daraus Braunkohle. Im 19. Jahrhundert grub man sich mit Spaten und Spitzhacken in riesige Gruben hinein, man karrte mit Schubkarren oder Loren die Kohle an den Grubenrand, der Transport in Kiepen über Leitern an die Erdoberfläche muss eine Qual gewesen sein. Wasser wurde herausgepresst, eimergroße Klumpen wurden an der Luft getrocknet. Das waren Klütten, Vorläufer der Briketts, die zum Ladenhüter verdammt waren.

Kraftwerk Niederaußem
Einen entscheidenden Impuls erhielt die Braunkohle mit der Besetzung des Rheinlandes 1923, die auch das Ruhrgebiet umfasste. Steinkohle musste als Reparationszahlungen an die Alliierten Siegermächte des 1. Weltkriegs geliefert werden. Da die Steinkohle für den Eigenverbrauch wegfiel, wurde sie durch Braunkohle ersetzt. Gleichzeitig wurden Spezialmaschinen entwickelt, die sich individuell an die Grube anpassen konnten. Raupenbagger, Eimerkettenbagger oder Portalbagger förderten höhere Kohlemengen und ersetzten die menschliche Knochenarbeit.

Die ersten Tagebaue entstanden dort, wo ungefähr die Römer auf Braunkohle gestoßen waren. So berichtete Tacitus, dass beim Bau der römischen Wasserleitung vor der Römerstadt Köln ein Kohlebrand entstand. Dem Verlauf der Wasserleitung nach zu urteilen, muss dies ungefähr auf der Höhe der heutigen Stadt Frechen geschehen sein.

Dass ganze Dörfer weggebaggert wurden und dass Menschen umgesiedelt werden mussten, diese Planspiele wurden erstmals 1926 gedacht. Der Höhenrücken der Ville zwischen Brühl, Frechen, Hürth und Erftstadt war vorherbestimmt für den Abbau als Tagebau, da die bis zu fünfzig Meter dicken Kohleflöze dicht unter der Erdoberfläche lagen. 1926 beschloss der der rheinische Provinziallandtag einen Abbauplan, dass Berrenrath, heute zu Hürth gehörend, dem Tagebau weichen sollte. Diese Pläne sollten von der Geschichte überholt werden. Die Besetzung des Rheinlandes wurde aufgehoben. Das Ruhrgebiet produzierte wieder Steinkohle im Überfluss. Die Förderung der Braunkohle wurde gedrosselt.

Quelle: Angelika "Dies und Das" *
Das Schicksal von Berrenrath war aber nicht aufgehoben, sondern aufgeschoben. Rund dreißig Jahre später traf es Berrenrath, das war in der Nachkriegszeit. In den 50er Jahren überholte die Braunkohle die Steinkohle mit ihrem Kostenvorteil. Die Spezialbagger drangen in neue Abbaudimensionen vor, die Braunkohle wurde direkt vom Abbaugebiet über Eisenbahntrassen oder Förderbänder in die Kraftwerke transportiert, es wurden neue Verfahren zur Entwässerung und Trocknung der Braunkohle entwickelt. Während Zechen im Ruhrgebiet dicht machten, wurde der Braunkohletagebau ausgeweitet.

1952 wurde im Gesamtplan des rheinischen Braunkohlegebiets die Umsiedlung von Berrenrath beschlossen. Dies war erste größere umgesiedelte Ort. Weitere Orte folgten: Kerpen-Mödrath, Kerpen-Brüggen, Frechen-Benzalrath, Frechen-Habbelrath, Frechen-Grefrath, das waren die nächsten Orte in den 50er und 60er Jahren.

Garzweiler, dieses bedeutungsschwere Name des Tagebaus, der in höchste politischen Ebenen kursiert, kenne ich aus meiner eigenen Kindheit. Otzenrath, Garzweiler, Elfgen: die Autobahn A44 steckte noch nicht im Planungsstadium, da fuhren unsere Eltern auf der alten Bundesstraße 1, die es längst nicht mehr gibt, von Jackerath über Otzenrath, Garzweiler, Elfgen und Grevenbroich, das außerhalb des Braunkohletagebaus liegt, über die Bundesstraße 59 nach Köln in den Zoo. Westlich von Köln hatte der Braunkohletagebau seinen Ursprung genommen, er fraß sich nach Nordwesten in die Niederrheinische Bucht hinein, verschlang Dorf um Dorf und speiste Kraftwerke, dem Produktionsausstoß aus der apokalyptischen Mondlandschaft des Tagebaus. Bagger fressen, Kohlewaggons transportieren ihre Last, Kraftwerke verheizen. Dabei entsteht sogar ein Stück Umweltfreundlichkeit, denn mit der Abwärme der Kraftwerke werden Tausende von Haushalten in Köln und Umgebung beheizt. Otzenrath, Garzweiler, Elfgen, diese Orte sind in den 2000er Jahren allesamt weggebaggert worden.

Immerather Dom
Quelle: Angelika "Dies und Das" *
„Ja zur Heimat – Stopp Rheinbraun“ diese Schilder sprießen überall dort, wo Menschen umgesiedelt werden müssen. Das ist natürlich traurig. Solch einen Heimatverlust stelle ich mir schrecklich vor. Zumal ich mit Dörfern wie Borschemich, Immerath, Kuckum oder Keyenberg so manche Erinnerung verbinde. Wegziehen, ein Umzug mit all seinen Beschwerlichkeiten, sich neu orientieren müssen, neue Nachbarn, nichts aus der Vergangenheit gewachsenes, neu aufzubauendes Vereinsleben, ich teile die Sorgen der Betroffenen in vollem Umfang. Der Immerather Dom, 1888 erbaut, mit seiner kollossalen Größe zum Monument gewachsen, wird einfach mal weggebaggert.

Barbarei ? Garzweiler II, dieser Tagebau rund fünfzehn Kilometer südlich von Mönchengladbach, sprengt so manche Größenordnung und so manches wird einfach mal weggebaggert. 1995 von der rot-grünen Landesregierung NRW beschlossen, markierte der Ort Garzweiler mit dem alten Trassenverlauf der Autobahn A44 die Grenze des Tagebaus. Bis Garzweiler war der Tagebau beschlossen und genehmigt. Westlich von Garzweiler musste das Genehmigungsverfahren durch das Bergamt Düren neu durchlaufen werden – daher Garzweiler II.

Dieser Braunkohletagebau stößt in neue Größenordnungen vor, da Sandschichten im geologischen Profil eingelagert sind. In diesem unvorstellbar langen Zeitraum von zehn Millionen Jahren lag die Nordsee näher, so dass sich genauso Schichten aus Muschelkalk dazu gesellen. Dies führt dazu, dass sich das Verhältnis von Abraum zu Kohle verschlechtert. Während bei Frechen oder Hürth noch zwei Einheiten Abraum auf eine Einheit Kohle kamen, verschlechtert sich dieses Verhältnis in Garzweiler II auf 4,6 zu eins. Zudem liegen die Kohleflöze tiefer, nämlich erst in rund 200 Metern Tiefe. Daher muss breiter, tiefer, gigantischer gebaggert werden.

Technisch ist das kein Problem. Schnell finden sich Ingenieure, die größere Bagger mit größerer Abbauleistung bauen. Neben mehr Umsiedlungen führen größere Braunkohlelöcher dazu, dass die Mengen an Grundwasser steigen, die abgepumpt werden müssen. Wohlgemerkt: Trinkwasser stammt in dieser Gegend aus Grundwasser, das mit dem Braunkohletagebau unwiederbringlich verloren geht. Mit dem Abpumpen wird es einfach in Flüsse eingeleitet. Außerdem droht der Wasserhaushalt in den Feuchtgebieten am Niederrhein zu kippen. So trocknen beispielsweise Feuchtgebiete wie das Finkenberger Bruch am südlichen Stadrand von Mönchengladbach aus.

Quelle: Angelika "Dies und Das" *
„Ja zur Heimat - Stopp Rheinbraun“ – dies wird nun auch die Gerichte beschäftigen, denn ein einsamer Bewohner aus Immerath will nicht weichen. Er hat vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt und begründet dies mit dem Grundrecht nach Artikel 11 des Grundgesetzes auf Freizügigkeit. Dies widerspreche dem Allgemeinen Bergrecht aus dem Jahr 1937, wonach enteignet werden darf, wenn dies dem Allgemeinwohl dient. Vom Prinzip her ist dies dieselbe Begründung wie beim Bau von Autobahnen, ICE-Trassen oder Flughäfen. Also: wenn sich genügend Autofahrer, Bahnreisende, Fluggäste – oder Stromverbraucher – finden, gehen die Aussichten gegen Null, gegen den Stromriesen RWE anzukommen. Wobei es aber speziell in der Strombranche Überraschungssiege von Klein gegen Groß gegeben hat: so erklärten die Richter das Kernkraftwerk in Mülheim-Kärlich für rechtswidrig, dasselbe Überraschungsschicksal ereilte das Kohlekraftwerk in Datteln.

Nicht nur wegen des Atomausstiegs steckt die Strombranche in einem Dilemma: woher soll unser Strom kommen ? Spätestens nach dem Beinahe-Zusammenbruch unseres Stromnetzes in der Eiseskälte des Winters 2012 sind die Stromeinkäufer zu dem Ergebnis gekommen, dass wir über zu wenige Kraftwerke verfügen und dass Stromkapazitäten über mittelfristige Zeiträume erhöhbar sein müssen. Der Bau von Offshore-Windparks stockt, Gaskraftwerke sind keine in Sicht, der Ausbau von Solaranlagen soll zur Senkung des Strompreises gedrosselt werden. Also Braunkohle. Da wir keinen Atomstrom aus Frankreich oder Tschechien importieren wollen, können wir nicht anders.

Es sieht so aus, als müssten die Einwohner von insgesamt 14 Dörfern vor Erkelenz in den sauren Apfel beißen. Es muss jemanden geben, der die Opferrolle spielt. Niemand will ein Kernkraftwerk, einen Staudamm, eine Müllverbrennungsanlage oder einen Braunkohletagebau vor seiner Nase haben. Zumal wir alle zu Strom verbrauchenden Bequemlichkeiten neigen: Wäschetrockner anstelle Wäsche draußen aufhängen, Tiefkühlgerichte anstelle frische Zutaten, Elektrorasierer anstelle Nassrasur, diese Reihe lässt sich sehr lange fortführen.

Aussichtspunkt Garzweiler II
Was kommt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ? Entweder kann fleißig weggebaggert werden und die Energieversorgung über den heimischen Rohstoff Braunkohle ist bis Mitte des 21. Jahrhunderts gesichert. Oder ein einziger Bürger aus Immerath schafft es, das gesamte Energiekonzept in Deutschland zu kippen. Bundesweit ist die Braunkohle mit einem Anteil von 25% Spitzenreiter bei der Stromproduktion (davon stammen wiederum 2/3 aus rheinischen Braunkohletagebauen). Wodurch könnte die Braunkohle ersetzt werden ? Renaissance der Steinkohle ? Käme der Bau von Offshore-Windparks voran ? Atomstrom aus Frankreich ?

Den Bewohnern von Kerpen-Mödrath oder Hürth-Berrenrath würde solch ein Urteil jedenfalls nicht mehr weiterhelfen. Bis heute sind den Kreisen Aachen, Düren, Bergheim, Euskirchen und Neuss rund 70 Dörfer mit rund 35.000 Menschen umgesiedelt worden. Wer kann die Braunkohlebagger stoppen ?


p.S.:
herzlichen Dank an Angelika http://angelikadiesunddas.blogspot.de, dass ich Bilder aus ihrem Blog in diesem Post zeigen durfte