Samstag, 31. Mai 2014

Klatschmohn

Das war zum Hinsehen, am Wegesrand.  Zwischen Getreidefeld und Wirtschaftsweg, gruppiert sich der Klatschmohn und zeigt, wie schön diese roten Farbkleckse das Bild der Natur aufmischen können. Als einziger Farbtupfer in der Umgebung, denke ich spontan an die Impressionisten, die Farben und Natur eindrucksvoll miteinander verbunden haben.





Der Klatschmohn wird eine Zeit lang den Wegesrand begleiten. Mit seiner eindringlichen roten Farbe, ist er an solchen einsamen Stellen schwerlich zu übersehen.

Mittwoch, 28. Mai 2014

Agnostizismus

Im Gerichtssaal kam es zum Eklat.

Regungslos sackte Murat K. in seinem Stuhl zusammen und krallte sich in seiner gefütterten Winterjacke fest. Seine Finger zupften an dem buschigen Bart, der in seinem Gesicht wie Unkraut wucherte, als der Richter das Urteil verlas. Die Revision wurde abgelehnt. Murat K., rechtskräftig verurteilt, das war im Oktober 2012, einem Polizisten hatte er mit einem Küchenmesser in den Oberschenkel gestochen, als dieser sich dem prügelnden Mob aus ProNRW und Salafisten entgegen stellte. Dann stieg der Zorn in ihm auf, sein Gesicht wurde feuerrot, er schmetterte den Richtern seinen Hass entgegen, so wie bei seiner Verurteilung vor anderthalb Jahren. ProNRW habe Mohammed-Karikaturen gezeigt, dies beleidige alle Moslems, Recht und Gesetz würden dieses Unrecht decken, die Polizei hätte bestraft werden müssen. Hass und Feindschaft würden gesät, wenn die Verantwortlichen nicht die Regeln des Islams annehmen würden. Schließlich packte er ein Grundgesetz, schleuderte es auf den Boden und trat mit den Füßen darauf herum.

So wie andere abends durch die Fernsehprogramme zappen, von Soap-Opera zu Dokumentation, von Krimi zu Quiz-Shows, von politischen Sendungen zu Reisereportagen, so zappe ich gerne auf meinem Internet-Radio herum. "Das philosophische Radio", freitags von 20.05 Uhr bis 21.00 Uhr auf WDR5, hat es mir angetan. Jürgen Wiebicke moderiert, da höre ich gerne zu, er lädt einen Experten ein und die Zuhörer können fleißig ihren Senf dazu geben. Es geht da um das radikal Böse im Menschen, vom Recht auf Nichtwissen in unserer Informationsgesellschaft oder welche Strategien man gegen die Knappheit der Zeit entwickeln kann.

Bei diesem Thema hatte ich zunächst weggehört, weil ich falsch zugehört hatte: Agnostizismus. Ich hatte gehört: Atheismus. Beides hängt wiederum zusammen, und die einzelnen Begriffe sind doch etwas komplett anderes. Das Wort „Agnostizismus“ kommt aus dem Griechischen, wobei die Vorsilbe „a“ für die Verneinung steht und „gnoein“ wissen bedeutet. 400 vor Christus erwähnt Protagoras erstmals den Agnostizismus, weil er keine Möglichkeit sieht zu wissen, ob Götter existieren oder nicht.

Erst im 19. Jahrhundert greift ein Biologe, das ist Thomas Henry Huxley, die Idee des Agnostizismus wieder auf und verbindet ihn mit dem Gottesbeweis. Die Menschen glauben an Gott – dann gehören sie einer Weltreligion an – oder sie glauben nicht an ihn – dann sind es Atheisten. Der Biologe verknüpft die naturwissenschaftliche Sichtweise mit dem Gottesbeweis: die Naturwissenschaft wird nicht beweisen können, ob es Gott gibt oder nicht, daher ist der Atheismus die falsche Gegenposition zum Glauben an Gott. Diese Gegenposition ist vielmehr das Nicht-Wissen oder die fehlende Urteilskraft des Menschen, den Dingen richtig auf den Grund zu gehen, um aus dem Status des Halb-Wissens heraus zu finden, nämlich der Agnostizismus.

Ich selbst staune, dass die Dinge, an die wir glauben, zahlreicher sind, als ich vermutet hatte. Glaube wird jeder mit Kirche und Religion verbinden, aber die spirituelle Dimension, Wahrheitsfragen, Nicht-Erklärbarkeit, Visionen eines Propheten, das Zusammenfinden in einer Gemeinschaft, Richtlinien wie die zehn Gebote: unabhängig davon, ob der Glaube auf einen Gott gerichtet ist, haben sich solche Konstrukte im Alltag durchaus verbreitet. Der Agnostizist fällt dann dadurch auf, dass er keine Position bezieht. Es ist sein freier Wille zu entscheiden, mit welchen Dingen er sich befasst. Er sucht sein eigenes Glück, indem er die einen Dinge ignoriert und die anderen Dinge, die es ihm Wert sind, teilt und sich in eine Gemeinschaft des Glaubens einbringt. „Leben und leben lassen“, in diesem Grundsatz könnte man diese Lebenseinstellung zusammen fassen.

Ich schaudere selbst, zu welchen Schrecken ein falsch verstandener oder fanatischer Glaube fähig ist. Erst waren es die Kreuzzüge, in denen der christliche Glaube Angst, Schrecken und Kriege verbreitet hat. In der Renaissance waren es Protestanten und Katholiken, die Kriege gegeneinander geführt haben. Nun ist es läppische dreißig Jahre her, seitdem sich in Ulster und Nord-Irland die letzten Protestanten und Katholiken die Köpfe eingeschlagen haben.

Der 11. September 2001 löste eine Initialzündung aus. Betrachtet man die Zahl der Kirchenaustritte, so geht die Gemeinschaft der gläubigen Christen kontinuierlich zurück. Dieses Defizit an religiösem Glauben füllt nun der Islam aus. Mehr noch: in der Perspektivlosigkeit von heruntergewirtschafteten Staaten lassen sich islamische Gotteskrieger rekrutieren, die in ein straff organisiertes System eingebunden werden, weltweit vernetzt sind und die vereint werden durch den Hass gegen das Christentum und die westliche Welt.

Der Glaube hat die Flugzeuge in das World Trade Center gesteuert, der Glaube hat die Feuerwehrmänner, die in Schutt und Asche nach Überlebenden gesucht haben, zu Helden gemacht. Der Glaube hat den Krieg gegen Afghanistan angefacht, um den Lenker islamischen Terrors, Osama bin  Laden, zu finden. Und der Glaube hat Geduld und Ausdauer bewiesen, um so lange nach dem Versteck zu suchen, um den Inbegriff des bösen Glaubens, Osama bin Laden, schließlich in Pakistan zu finden.

Das Gedankengut eines Murat K. ist in die Köpfe so mancher Islamisten, Salafisten und wie sie alle heißen, gewandert. So wie er, rücken die Gotteskrieger aus den Elendsvierteln in Islamabad, Kairo oder Algier aus, um die böse westliche Welt zum besseren Glauben des Islams zu überführen. Murat K. bereut nichts. Er würde wieder so handeln. Sollte sich die Polizei in den Weg stellen, würde er wieder zustechen.

Glücklicherweise sind Murat K. und seine Gesinnungsgenossen eine Randerscheinung. Die Islamisierung unserer Gesellschaft schreitet zwar voran, doch 99% der Moslems haben mit dem Gedankengut eines Murat K. nichts gemein. Christen und Moslems leben spannungsfrei miteinander, das beweist der Alltag, weil sie die Religion des anderen nicht verstehen müssen - was auch eine Form des Agnostizismus ist.

All die Ismen des 20. und 21. Jahrhunderts setzen auf Glauben und Weltanschauung auf, sie haben Massen mobilisiert, die durch Führer willenlos gelenkt wurden. Der Nationalsozialismus hat kein tausendjähriges Reich gebracht, sondern den Völkermord an den Juden. Kapitalismus und Kommunismus haben die Welt in Gut und Böse aufgeteilt. Auch der Kommunismus hat seinen Teil am Völkermord beigetragen, als 1975 bis 1979 auf den „killing fields“ in Kambodscha nicht kommunistisch gesonnene Menschen systematisch ermordet wurden. Mit dem Mauerfall 1989 ist die Ära des Kommunismus zu Ende gegangen, aber glaubt die Weltbevölkerung seitdem nur noch an den Kapitalismus ?

James Bond, Geheimagent 007, hat es gewagt. In den Zeiten des Kalten Krieges hat er dem Kommunismus getrotzt, mutig, kühn, gewagt, hat er es mit den Feinden in Rußland und Afghanistan aufgenommen.  Ausgefeilte Technik hat ihn aus brenzligen Situationen herausgebracht. Er ist zum Retter der Welt geworden, der verhindert hat, dass im entscheidenden Moment die Welt durch eine Atombombe ausgelöscht worden wäre. Zwölf Romane hat Ian Flemming geschrieben, in seiner Rolle als Agent des britischen Geheimdienstes, hat er James Bond zur Glaubensfigur gegen den Kommunismus verewigt.

Der Glaube polarisiert, er läßt nur noch die Wahl zwischen Gut und Böse. Das ist so wie beim Fußball. Fans tun sich zusammen, pflegen ihr Gemeinschaftsgefühl, marschieren ins Stadion, schwenken Fahnen und feuern ihre Fußball-Mannschaft an. Sie glauben daran, dass ihre Mannschaft das Spiel gewinnen wird. Es gibt einen klar umrissenen Feind, der als gegnerische Mannschaft auf dem Platz steht. Wenn alles gut läuft, dann gewinnt eine Mannschaft (oder das Spiel geht unentschieden aus), und anschließend sind die einen Fans todtraurig und betrübt und die anderen Fans im siebten Fußballhimmel oder auch beide Fanblöcke zufrieden. Wenn es schlecht läuft, dann gibt es Randale, so wie zuletzt in der 2. Fußball-Bundesliga beim Abstiegsduell Dynamo Dresden gegen Arminia Bielefeld. Als Dresden 2:0 zurücklag, explodierten Böller auf dem Spielfeld, Leuchtraketen wurden auf den Rasen geschossen. Als das Spiel aus war und Dresden nach einer 2:3-Niederlage in die 3. Liga abgestiegen war, drohten Fans von Dynamo Dresden auf einem Plakat: „Ihr habt eine Stunde Zeit, um unsere Stadt zu verlassen.“ Nachdem sie sich geduscht und angezogen hatten und aus ihren Umkleidekabinen das Stadion verließen, musste die Polizei herhalten, um die Spieler beider Mannschaften vor dem Mob randalierender Fußballfans zu schützen. 

Beim Fußball versteht sich Agnostizismus von selbst, weil es dort nichts zu verstehen gibt. Klar, der Trainer gibt den Spielern eine Taktik an die Hand, seine Mannschaft hat einen guten oder schlechten Tag erwischt, der Rest ist Kampf, Einsatz, Übung, Training, Schnelligkeit, Technik, Teamfähigkeit, Herz, Leidenschaft. Rational zu verstehen, Urteile zu bilden, im Sinne einer Erkenntnistheorie, gibt es nicht beim Fußball. Kurz gesagt: 22 Spieler rennen dem Ball hinterher und in wessen Tor der Ball am häufigsten landet, diese Mannschaft hat verloren.

Agnostizismus ist eine natürliche Einstellung, die andere Fußball-Fans ihren Leiden oder Freuden überläßt. Neutralität, Mäßigung, nicht wissen, den anderen nicht bekehren wollen, ihn so lassen, wie er ist, sich selbst nicht als Heilsbringer verstehen: von solchen Einstellungen könnte unsere Gesellschaft profitieren, um einen falsch verstandenen oder fanatischen Glauben zu entschärfen.

Sonntag, 25. Mai 2014

Friedensdenkmal für Europa

Auf einem kleinen Platz an der Hauptstraße, versteckt sich ein Kriegerdenkmal aus der Wilhelminischen Epoche, das zu einem Friedensdenkmal umfunktioniert worden ist. Anderenorts haben sich Denkmäler aus der Kaiserzeit erhalten, die den Kaiser abgöttisch verehrten, die deutsche Nation als das Maß aller Dinge darstellten oder Generäle und Feldherren huldigten. Nicht so an dieser Stelle: auf dem Denkmal stand ursprünglich die Bronzestatue eines Soldaten, im 2. Weltkrieg wurde das Metall eingeschmolzen, um den Endsieg voran zu treiben, in der Nachkriegszeit waren Soldaten und Militär verpönt, so dass eine Kugel aufgesetzt wurde. 2011 verlieh der Bürgerverein in Küdinghoven die Bedeutung eines Friedensdenkmals, indem diese Kugel die 18 Sterne der europäischen Nationen symbolisieren sollten.



Unter dem dichten Blattwerk einer Linde, steht das Denkmal auf einem kleinen Platz im Stadtteil Küdinghoven.


1906 errichtete der „Kameradschaftliche Kriegerverein Küdinghoven“ dieses Denkmal für die im deutsch-französischen Krieg 1870/71 gefallenen Soldaten.


Ein Foto erinnert daran, wie das Denkmal mit der Bronzestatue des Soldaten ausgesehen hat.


Nach Kriegsende wurden die Gefallenen des Ersten Weltkriegs 1914/18 hinzugefügt.


Mit dem Zitat von Theodor Heuss „Sorgt ihr, die ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibe“ fällt mein Blick auf die Kugel, die sowohl den Frieden für die Welt und den Frieden für Europa verkörpern könnte.


Am Fuß des Denkmals erzählen Meilensteine die Geschichte der Europäischen Gemeinschaft.


Städtepartnerschaften festigten die deutsch-französische Freundschaft. 

Donnerstag, 22. Mai 2014

Nietzsche im Rheinland

Seine Stippvisite an den Rhein war kurz, dauerte gerade ein Jahr und war voller Neugierde, Wechselbäder und Abstürzen,  so wie sein restliches Leben.

Als Sohn eines Pfarrers war Friedrich Nietzsche in Naumburg in Sachsen aufgewachsen, sein Vater starb, als er vier Jahre alt war. Nachdem er 1864 das Abiturexamen im Internat in Schulpforta abgelegt hatte, wurde ihm die Welt in der sächsischen Provinz zu eng. Seine Lehrer machten ihm ein Studium in Bonn schmackhaft.

Nachdem das Rheinland 1815 der preußischen Rheinprovinz zugeschlagen wurde, verlagerten die Preußen die Kölner Universität zu Rheinischen Wilhelms-Universität nach Bonn. Der Aufbau der Bonner Universität wurde zum Politikum, denn die Preußen förderten Lehre und Forschung finanziell. Sie beriefen namhafte Professoren nach Bonn, um das Rheinland fester an Preußen zu binden, denn die Unterschiede zwischen Mentalitäten und Weltbildern waren gewaltig. So hatte Bonn in dem Fach „klassische Philologie“, das Nietzsche studieren wollte, einen hervorragenden Ruf.

Diese Argumente überzeugten. Nietzsche wollte auch an der rheinischen Lebensart teilhaben, an Frohsinn und Geselligkeit, heraus aus der Herrschaft von Gottes Wort  und den Glauben an den preußischen König in Naumburg, hinein in die Weinstuben entlang des Rheins, wo man in den Tag hinein leben konnte und die Lebensqualität mit der Romantik des breiten Stroms stieg.

In der Bonngasse 518, unweit vom Beethovenhaus, fand er eine Studentenbude. Die Briefwechsel mit seinem Elternhaus waren rege. „Ich glaube, sehr zufrieden sein zu können", schrieb er an seine Mutter, „monatlich 5 Thai. Miete. Sehr schönes Haus. Es ist mir sehr lieb, bei meinen Wirtsleuten essen zu können für fünf Silberlinge sehr gute Hausmannskost, Suppe, Gemüse und Fleisch."

Am 16. Oktober 1864 begann sein Studium. Neben „Klassische Philologie“ belegte er Vorlesungen in „Theologie“, um dem Vorbild seines Vaters zu folgen. Doch vorläufig stand weniger der Vorlesungsplan auf der Agenda, sondern das Kennenlernen der Annehmlichkeiten des Rheinlandes durch Ausflüge, Dampferfahrten auf dem Rhein, sowie Kneipen mit entsprechender Bierseligkeit. Gegenüber seiner Mutter geriet er ins Schwärmen: „Unsere Rheinreise war kostbar, nimm das Wort, wie Du willst, es trifft immer. Ich habe diese Tage schon wieder Sehnsucht empfunden nach diesem grünwogigen prachtvollen Strom."

Mit diesem Hintergrund trat er in die Burschenschaft „Frankonia“ ein, um gemeinsam mit anderen Studenten rheinischen Frohsinn zu pflegen und Einigkeit und Recht und Freiheit eines deutschen Vaterlandes herauf zu beschwören. Das Fechten war ein Ritual, das zu festen Zeiten geübt werden musste. Ein Fechtduell, das Nietzsche in Freundschaft begann, hinterließ bleibende Spuren: als er einen Gegner dominierte und ihn zum Abbruch zwang, fuhr dieser ihm im Zorn mit dem Degen quer über die Nase, das Blut quoll in Strömen und hinterließ eine bleibende Narbe.

Tief beeindruckt war er vom Rolandsbogen, der Ziel eines Ausflugs mit seiner Burschenschaft war. Als sie mit dem Schiff in Rolandseck ankamen, wurden sie mit Böllerschüssen begrüßt. Sie wanderten aufwärts zum Rolandsbogen, das Abendessen dauerte bis sechs Uhr. Danach ging es lustig und hoch her. Nietzsche schrieb über diesen Ausflug an seine Mutter: „Wir waren ausnehmend vergnügt und sangen viele selbstverfasste unsinnreiche Lieder. Draußen war es Dämmerung geworden, der Mondschein lag auf dem Rhein und beleuchtete die Gipfel des Siebengebirges, die aus dem bläulichen Nebel hervortraten. Wir blieben bei einem edlen Rheinwein, während die anderen Champagnerbowle tranken. Die Gegend ist dort wirklich drei Ausrufezeichen werth."

Nietzsche genoß seine Ungebundenheit in vollen Zügen. Das Rheinland formte er als das absolute Gegenteil zu der kleinstädtischen Ereignislosigkeit in Naumburg. Er entwickelte einen Drang zur Musik, besuchte Hebbels „Nibelungen“ im Bonner Schauspielhaus, einen Klavierabend mit Clara Schumann, in Köln Beethovens „Fidelio“ und Meyerbeers „Hugenotten“. 1865 besuchte er das Niederrheinische Musikfest mit einer Aufführung von Händels „Israel in Ägypten“ im Kölner Gürzenich.

In Köln geriet er sogar vollends auf Abwege, als ihm ein Einheimischer ein Etablissement für Nachtschwärmer vorführen wollte. Dort sah er sich plötzlich umgeben von einem halben Dutzend weiblicher Erscheinungen in Flitter und Gaze, in halbnackten Posen, so berichtete ein Mitstudent. Er war so irritiert, dass er erstarrte und es ihm seine Sprache verschlug, dass er in einem Bordell gelandet war. Dann ging er instinktmäßig auf ein Klavier los als das einzige seelenhafte Wesen in dieser dekadenten Gesellschaft. Er schlug einige Akkorde an, die seine Erstarrung lösten und ihn fluchtartig ins Freie beförderten.

Derweil wuchsen in besorgniserregendem Umfang seine Unkosten. Regelmäßig beschrieb er seiner Mutter seine desolate finanzielle Situation. Sie schickte ihm Geld über einen monatlichen Wechsel, und wenn dieser ankam, ließen offene Schulden davon kaum etwas übrig.

Ab dem Sommersemester 1865 veränderte sich seine Einstellung. Er blickte zurück und stellte fest, dass er jede Menge  Zeit vergeudet hatte. Einen Studienfortschritt konnte er kaum feststellen. In „Klassische Philologie“ hatte er wenige, in Theologie keine Vorlesungen besucht. Die Schuld gab er seinen Mitstudenten in der Burschenschaft, die ihn mit ihren „rohen Trinksitten“, ihrem „Biermaterialismus“ und ihrer schlechten Urteilsfähigkeit vom Studium abgehalten haben. Er wendete sich vom Rheinland ab.

Er trat aus der Burschenschaft aus, wobei die Art und Weise, wie er austrat, sich wie ein roter Faden durch seine philosophischen Schriften zog. Er brach mit den Konventionen. Er wollte alles Gewesene niederreißen, er stellte alle Grundsätze in Frage, in seinen neuen Denkansätze verwarf er Denkmäler wie Platon, Aristoteles oder Kant, deren Denken Jahrtausende lang überall als richtungsweisend gegolten hatte.
Er reichte sein Gesuch ein und erörterte mit der Burschenschaft seine Gründe für den Austritt. Diese war nicht gerade begeistert darüber, in welchem Umfang er diese schlecht geredet hatte, und wie seine Sichtweisen innerhalb der Studentenschaft Beine bekommen hatten. Die Burschenschaft war außer sich, sie raffte sich aber zusammen und verlieh ihm eine ehrenvolle Entlassung mit Band, um die Form zu wahren.

Der Bruch mit den Konventionen folgte, als er sich bereits zum folgenden Wintersemester in der Universität in Leipzig eingeschrieben hatte. Dass die Bonner Ära zu Ende gegangen war, hing mit seinem zunehmenden Schuldenberg zusammen, und damit, dass gleichzeitig sein Professor in „Klassische Philologie“ nach Leipzig wechselte. Dieser sollte später die Karriere Nietzsches befördern. Aus Leipzig schickte er nun das Band, mit dem er ehrenvoll aus der Burschenschaft entlassen worden war, nach Bonn zurück und bat sozusagen um einen Austritt aus dem Austritt. Die gemeinsamen Erlebnisse, die gemeinsame Vergangenheit mit der Burschenschaft wollte er auslöschen, er wollte nichts mehr damit zu tun haben.

Nietzsches Karriere nahm seinen Lauf, als er 1870 eine Professur an der Universität Basel annahm. Er verschlang die Schriften Darwins, der mit seinem Beweis, dass der Mensch vom Affen abstammt, das religiöse Weltbild in neuen Dimensionen in Frage stellte. Gott als persönlicher Urheber und Lenker war tot. Das nüchterne Menschenbild aus Zahlen, Daten, Fakten gewann an Konturen. Der Mensch wurde zu einem Tier mit einem leistungsfähigen Prozessor im Gehirn degradiert.

Fortan arbeitete er an den Fragen, was die nüchterne naturwissenschaftliche Sicht für das Selbstverständnis des Menschen bedeutete, auf welche Art und Weise die naturwissenschaftliche Sicht einen Mehrwert liefern konnte, wie der Mensch sich in diesem Umfeld neu positionieren konnte. Die einleitenden Sätze in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“ zeigen die ständig fortlaufende Suche des Menschen auf: „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst. Das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehen, dass wir uns eines Tages fänden ?“ Seine Analysen sind stets brilliant und liefern neue, frische Denkweisen.

Rückblickend, erinnerte sich Nietzsche als Professor in Basel gerne an seine Studienzeit im Rheinland zurück. 1872 beschrieb er in einer Vorlesung seinen Studenten den Ausflug auf den Rolandsbogen . Er erzählte: „Es war eine jener vollkommenen Tage, wie sie, in unserem Klima wenigstens, nur eben diese Spätsommerzeit zu erzeugen vermag: Himmel und Erde im Einklang ruhig nebeneinander hinströmend, wunderbar aus Sonnenwärme, Herbstfrische und blauer Unendlichkeit gemischt. Wir bestiegen, in buntesten, phantastischen Aufzuge, an dem sich der Trübsinnigkeit aller sonstigen Trachten, allein noch der Student ergötzen darf, ein Dampfschiff, das zu unseren Ehren festlich bewimpelt war, und pflanzten unsere Verbindungsfarben auf seinem Verdeck auf. Von beiden Ufern des Rheins ertönte ein Signalschuß, durch den nach unserer Anordnung ebenso die Rheinanwohner als vor allem unser Wirt in Rolandseck über unser Herankommen benachrichtigt wurde. Ich erzähle nun nichts von dem lärmenden Einzug, vom Landungsplatze aus, durch den aufgeregt-neugierigen Ort hindurch, ebenso wenig von den nicht für jedermann verständlichen Freuden und Scherzen, die wir uns untereinander gestatteten.“

Viel zu jung, begann der Absturz von Nietzsche. Seine Schaffensperiode war kurz, denn bereits im Alter von 35 Jahren plagten ihn Migräne und Magenbeschwerden, so dass er seine Lehrtätigkeit in Basel aufgeben musste. 44 Jahre alt, brach er so sehr zusammen, dass man das Krankheitsbild heute als Schlaganfall bezeichnen würde. Im Alter von 55 Jahren starb Nietzsche.

Dienstag, 20. Mai 2014

mit dem Rennrad nach Bad Münstereifel

Es gibt Rennradtouren, die richte ich am Wind aus. Schutzlos, in flachem Gelände, zwischen spärlichen Dörfern und ohne jegliche Waldstücke, kann die Rennradtour bei Gegenwind zur Tortur werden. Wenn ich in Endloszyklen gegen den Wind trete, stelle ich die Sinnhaftigkeit der Existenz in Frage. Das ist so wie bei dem Mythos von Sisyphos, der trotz aller Mühen sein Ziel nicht erreicht, dem  jedesmal, vor Erreichen des Gipfels, der Stein den Berg wieder hinunter rollt, und dem nichts als die Erkenntnis verbleibt, dass alles Schaffen vergeblich ist.

In Boen weht der Wind aus West. In meinem Bewusstsein, dass meine Mühen nur auf der Hälfte der Strecke vergeblich sind, wähle ich die Strecke über den Kottenforst, Meckenheim und Rheinbach gegen den Wind. Dann, auf den Höhenzügen der Eifel, habe ich genug mit den Steigungen zu tun, mit dem mühseligen Auf und Ab, wobei Stücke des Höhenprofils sogar bergabwärts führen. Bad Münstereifel markiert den Wendepunkt. Ab dort verleiht der Rückenwind Flügel. Wenn ich in der Ebene der Euskirchener Börde angekommen bin, pusten mich die Windböen so sehr vorwärts, dass ich kaum noch zu treten brauche.

Das Stück von Meckenheim nach Rheinbach hat es in sich. Normalerweise, wenn der Wind ein flaues Lüftchen ist, kann ich locker in die Pedale treten. Beinahe wie in einer militärischen Ordnung, stehen die Baumschulen in Reih und Glied. Linkerhand kündigt der Stumpf der Tomburg die ersten Höhenmeter der Eifel an. Aber der Gegenwind läßt mich an den Mythos vom Sisyphos denken. Die steife Brise schlägt in mein Gesicht. Ich bin gehemmt, eine unsichtbare Kraft stemmt sich meinen Tritten entgegen.

Glasmuseum Rheinbach
Durch Rheinbach mogele ich mich hindurch, denn für ein kurzes Stück muss ich absteigen und schieben. Zunächst immer geradeaus, Richtung Zentrum. Dann biegt die Hauptstraße nach rechts ab, während geradeaus Gegenverkehr aus einer Einbahnstraße entgegenkommt. Zehn Meter schiebe ich, dann kann ich links abbiegen und weiterradeln. Ich steuere auf den Hexenturm, der schlimmes aus dem Mittelalter erahnen läßt, biege nach rechts ab auf die Polligsstraße, die mit ihren Fachwerk- und Ziegelsteingebäuden ein Stück des alten Rheinbach erhalten hat. Himmeroder Hof, dort ist das Glasmuseum untergebracht. Rheinbach ist Zentrum des Glaserhandwerks im Rheinland, doch im Gegensatz zur historischen Stadt Rheinbach ist das Glasmuseum neueren Datums, genauer gesagt: Aussiedler aus Sudeten verschlug es 1947 nach Rheinbach. Sie verlegten aus der tschechischen Stadt Kamenický Šenov eine Glasfachschule nach Rheinbach. Ebenso siedelten sich Glasveredelungswerksätten ein.

An den Überbleibseln der Stadtmauer und am Wasemer Turm komme ich an den Resten des historischen Rheinbachs vorbei. Dann biege ich links ab auf die Hauptstraße, wo mich in Schüben die andersartig strukturierte Welt der Eifel erwartet. Ich gebe zu, dass ich in diese verlassene Landschaft, die ich keineswegs als öde empfinde, vernarrt bin. Als sich die Straße Merzbach nähert, spüre ich die Eifel rasch in meinen Knochen. Der Strich der Straße zieht einen Bogen nach oben, die Steigung zwingt mich, auf einen möglichst kleinen Gang herunter zu schalten. Waldstücke gruppieren sich auf den Höhen, die Landschaft dehnt sich auseinander, die Dörfer werden spärlicher und kleiner. Stille, eine besinnliche Stille breitet sich aus, die kaum vom Autoverkehr gestört wird.
auf den Höhenzügen der Eifel

Klein, weiß gestrichen, auf einem Hügel in der Ortsmitte: so wie in Neukirchen, dem nächsten Ort, sind viele Kirchen, klein, kompakt und alt. In dieser Unberührtheit der Eifel fällt das Alter der Kirche auf das Jahr 1274 zurück. Menschenleer und unnahbar, so zieht die Steigung wieder an. Die urwüchsige Landschaft sendet Lebenszeichen, die Straße kreuzt sich. Falls ich meinen letzten Mut verlieren sollte, kann ich sogar übernachten im Gasthaus Kurtenberg. Biker sind herzlich willkommen, wie an vielen Stellen in der Eifel, und 25 € könnte ich, im schlimmsten Falle, für Übernachtung mit Frühstück berappen.

Dankend fahre ich weiter, der nächste Berg fordert weitere Kraftanstrengungen heraus, der undurchdringliche Wald versetzt meinem Optimismus erste Dämpfer. Ich kann durch schnaufen, als die Steigung geschafft ist. Wiesen schaufeln die Sicht frei, auf den Höhen reiht sich Bergkuppe an Bergkuppe. Die Eifel kommt mir vor wie die unendlichen Weiten des Universums im Raumschiffe Enterprise. Ich gleite dahin, die Landschaft ist umwerfend und genial jenseits der Zivilisation in einem ökonomischen Niemandsland, wo sich Hasen und Rehe gute Nacht sagen.

Das Straßenschild, an dem ich rechts nach Bad Münstereifel abbiege, zankt mich. Es gaukelt mir vor, dass Bad Münstereifel zum Greifen nahe ist, doch dem ist nicht so. Kurz bergab, dann folgt ein zäher, tückischer, aber nicht sonderlich steiler Anstieg. Wie an der Schnur gezogen, lähmt der Anstieg mein Blickfeld, dann knickt die Straße ab, verläuft ein Stückchen bergabwärts, bis sich die Straße aufbäumt und erneut, wie an der Schnur gezogen, den Berg hoch klettert. All meinen Eifel-Frust trete ich in die Pedale hinein, da sich dieses Spielchen einige Male wiederholt.

in Kurven hinab nach Bad Münstereifel
Das zehrt an meinen Nerven. Mein Blick ringt nach Abwechslung, um der angespannten Öde mitten im Wald zu entkommen. Die Steinbach-Talsperre ist nicht weit, Heckenreihen versperren ein monumentales Forsthaus.  Ein anderes Forsthaus, das Forsthaus Scheuren, ein ausholender Fachwerkbau, ist ein Ort der Mystik und Umkehr, so denn die Informationen im Internet stimmen. Neben indianischen Ritualen, Feuerläufen und schamanischen Tänzen bietet die Inhaberin ein Vollmond-Trommel-Fest an, wo die Teilnehmer trommelnd, rasselnd, singend und tanzend den Vollmond begleiten.

Und dann kommt sie doch, die Erlösung, an einer Einmündung. Die Straßenbeschilderung signalisiert mir, dass die Entfernung nach Bad Münstereifel auf fünf Kilometer zusammen geschrumpft ist. Und die fünf Kilometer gehen nur noch bergab. Die Abfahrt ist gigantisch. Die Füße locker, die Hände an der Bremse, leicht gebückt im Sattel, zischen Wiesen und Wald an mir vorbei. Voller Schwung brause ich ins Tal hinunter.

Stadtbefestigung und mittelalterliches Aussehen, solche Ziele liebe ich. Ich schlüpfe unter der Brücke der Umgehungsstraße hindurch, dann biege ich links ab auf die Hauptstraße. Nach einem Kilometer habe ich das Ziel der Tour erreicht. Ich passiere ein Stadttor und bin mittendrin in der mittelalterlichen Herrlichkeit von Bad Münstereifel. Während ich nach oben auf die Burg hinauf schaue, plätschert die Erft sanft zu meinen Füßen dahin. Brücken, harmonisch gegliedert, führen über den Bach. Auf der anderen Seite habe ich zwischen gediegenem Fachwerk eine breite Auswahl, wo ich mich nach vierzig gefahrenen Kilometern mit einem kühlen Getränk erfrische.

Pfarrkirche St. Chrysanthus & Daria
830 wurde Bad Münstereifel als „Monasterium in pago Eifle situm“ gegründet und erscheint in den Besitzverzeichnissen des Klosters Prüm. 848 erhielt die Ansiedlung Markt- und Zollrechte, um 1300 ließen die Grafen von Jülich die Stadtbefestigung bauen. Mit ihren Wollwebereien, Gerbereien und Brauereien blühte Bad Münstereifel auf.

Nach dem 30-jährigen Krieg wendete sich in Bad Münstereifel das Schicksal. Niedergang, Jammer und Elend setzten ein – wie in so manch anderen Landstrich in der Eifel.

In Bad Münstereifel leitete ein Skandal den Abstieg ein. Als am 13. November 1678 die Truppen des französischen Sonnenkönigs die Stadt plünderten, flohen alle Ratsherren Hals über Kopf nach Köln und lieferten die Bürger der Katastrophe aus. Diese mussten die Franzosen mit großen Mengen an Bier, Brot, Fleisch und Wein versorgen. Während die Münstereifeler am Hungertuch knabberten, lebten die Truppen wie die Made im Speck. Doch damit war nicht genug: die Franzosen drohten mit Brand und Zerstörung, falls ungeheure Geldsummen monatlich nicht gezahlt würden. Da die Münstereifeler diese Gelder nicht flüssig hatten, wandten sie sich in höchster Not an ihre Ratsherren, die sich nach Köln aus dem Staub gemacht hatten. Doch sie lehnten jede Hilfe ab.

Danach zerfiel Bad Münstereifel. Die Stadt verarmte, zumal die Wollwebereien längst ins nahe Euskirchen abgewandert waren, sie fiel in einen Dornröschenschlaf, der mehr als zweihundert Jahre andauerte.

Erst 1926 erwachte die Stadt aus dem Dornröschenschlaf, als diese in Anlehnung an die Wassertherapien des Sebastian Kneipp zum Kurort auserkoren wurde. Konserviert in der Epoche des Mittelalters, glich sich in der Nachkriegszeit das Wohlstandsniveau an, als die Stadt an die Wirtschaftsräume des Rheinlandes angebunden wurde.

Rathaus Bad Münstereifel; Quelle Wikipedia
Zwei große Pils löschen meinen Durst. Ich nutze die Pause, um das gotische Rathaus in seiner geschichtsträchtigen roten Farbe zu bestaunen. Das Westwerk der Pfarrkirche St. Chrysanthus und Daria läßt mich an großartige Vorbilder von romanische Kirchen denken, so St. Pantaleon in Köln oder das Kloster Maria Laach.

Wehmütig verlasse ich Bad Münstereifel. Danach ist die Streckenführung ein Kinderspiel, denn ich folge dem Erfttalradweg. Sprich: die Fahrradsymbole weisen den Weg über Nebenstraßen und Wirtschaftswege, das ist ein Teilstück des Radwegs von der Quelle der Erft in Nettersheim bis zur Mündung in Neuss. Ungestört und vollkommen Auto-frei, bin ich begeistert.

Hätte ich mehr Zeit, würde ich in Iversheim einen Abstecher machen. Die Reste römischer Fabrikproduktion. In sechs Öfen wurde aus Kalk Zement hergestellt. Die Römer bauten und expandierten. Sand und Zement brachten den Bauboom der Römer nach vorne. Dabei unterscheiden sich die Verfahren nur geringfügig, wie Zement bei den Römern und in heutigen Zementwerken hergestellt werden: Kalk und Ton werden zermahlen, untereinander vermischt und in Öfen in einer Hitze von rund eintausend Grad gebrannt. Doch diese Erkenntnis ist nicht neu, dass die Römer, was technische Errungenschaften wie Trinkwassergewinnung, Heizung, sanitäre Anlagen oder industrielle Produktion betrifft, dass sie uns Jahrtausende voraus waren.

Ich schlängele mich die Erft entlang, lasse das Glucksen des Baches auf mich wirken. In Arloff darf ich den Erfttal-Radweg verlassen, denn ich will nach Kirchheim. Es gibt Berge, da packt mich meine Radfahrerseele. Das sind herausragende, stille Orte, die mich beflügeln, die mir einen Überblick verschaffen, von denen aus ich die Dinge von einem höheren Standpunkt vollkommen gelassen betrachte. Dieser Berg in Kirchheim ist einer dieser spirituellen Orte.

Die Einheimischen sind ahnungslos. Ich bin irritiert, als mir geradeaus ein Sackgassenschild vor die Nase gesetzt wird. Ich frage einen Passanten, ob ich geradeaus durch die Sackgasse zum Berg nach Kirchheim komme. Der Passant rümpft die Nase. Bergauf ? Das ist nicht sein Verständnis, denn nach Kirchheim ist bergab und nicht bergauf. Ich verstehe nicht richtig, ich will nach Kirchheim und sehe keinen Widerspruch. Der Straße folgend, fühle ich mich bestätigt, denn der Anstieg leitet mich über auf die Landstraße und den Berg, den ich mich herauf quälen darf. Zwei, drei Kurven schlängeln sich nach oben, und der Mythos von Kirchheim gewinnt an Gestalt: dieser Berg ist das letzte Aufbegehren der Eifel, bevor er abflacht in die Euskirchener Börde.

Rundumblick bei Kirchheim
Oben auf dem Berg genieße ich den herrlichen Rundumblick. Der Rückenwind hat aufgedreht, knickt die Stiele des Grases hinweg, schüttelt das Laub in den Bäumen, weht klumpige Wolkengebilde über mich hinweg, die entgegen der Wettervorhersage glücklicherweise keinen Regen bringen. Hinter mir, über das Erfttal hinweg, falten sich die Berggipfel zu einem durchgängigen Band mit wohl proportionierten Formen. Vor mir, reißt die klare Sicht in der Ferne ab, so dass der Höhenrücken der Ville unscharf verschwimmt.

Ich selbst bin ahnungslos, als ich in Kirchheim auf unsere jüngere deutsche NS-Vergangenheit stoße. Joseph Emonds, ein katholischer Pfarrer, starb am 7. Februar 1975 in Kirchheim. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, berührte ihn in seiner Pfarre in Essen die zunehmende Verfolgung von Juden und Kommunisten. Er half ihnen, indem er deren Ausreise organisierte und sicherstellte, dass sie über geheime Grenzübergänge ins Ausland gelangen konnten. Was er trieb, kontrollierte die Gestapo. Sie stufte ihn als „staatsfeindliches Individuum“ ein, doch es reichte anscheinend nicht, um ihn zu inhaftieren. Als sein Engagement für Juden und Verfolgte nach der Reichskristallnacht 1938 nochmals zunahm, zog die Kirche ihn aus dem Verkehr und versetzte ihn zu seiner eigenen Sicherheit in die etwas ruhigere Voreifel.

Doch selbst hier nutzte er Netzwerke und Kontakte, um vom beschaulichen Rand der Eifel aus Juden zu helfen. Aus der Zeit seines Priesterseminars in Bensberg bei Köln kannte er einen Freund, der in der Gestapo-Leitstelle in Düsseldorf gelandet war. Er verschaffte ihm über das Generalvikariat in Köln Namenslisten Juden oder Angehörigen aus Mischehen, die in Konzentrationslager abtransportert werden sollten. Bis zum Kriegsende sorgte er dafür, dass Juden in Verstecken untertauchen konnten. Als 1944 einige Wochen lang die Waffen-SS in seinem Haus untergebracht war, grenzt es an ein Wunder, dass niemand ein jüdisches Ehepaar entdeckt hatte, das er auf seinem Dachboden versteckt hatte. Hans-Dieter Arntz, ein pensionierter Geschichtslehrer, beschreibt all diese Ereignisse auf seiner Internet-Homepage.

Den Wind als willigen Helfer im Rücken, sausen die nächsten Dörfer vorbei. Während ich in  Meckenheim noch auf die Quälerei gegen den Wind geflucht hatte, schwebte ich nun daher, all die Treterei spult sich wie selbstverständlich ab.

Flamersheim fliegt vorbei, das 870 erstmals erwähnt wurde, mithin sogar älter ist als Bad Münstereifel und in denselben Besitzverzeichnissen der Abtei Prüm erscheint. Bei Palmersheim verlasse ich den Kreis Euskirchen, mit Swisttal begrüßt mich der Rhein-Sieg-Kreis. Am Berg in Heimerzheim spüre ich, dass ich rund siebzig Kilometer in den Knochen habe, denn die Tritte werden schwerer, mein Herz pocht. Danach pustet mich der Rückenwind auf dem Höhenrücken des Kottenforstes wieder in flachem Gelände vorwärts, bevor bei Bornheim die Landstraße mit 10% Gefälle ins Tal stürzt.

In Bonn zurückgekommen, weiß ich, was ich geleistet habe. 91 wunderschöne Kilometer in die Eifel hinein stecken in meinen Knochen.

Strecke:


Höhenprofil:


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Sonntag, 11. Mai 2014

Servatius-Kapelle

Kapelle auf der Waldlichtung
Ich musste genau hinsehen, denn schon zweimal hatte ich die kritische Stelle übersehen. Bewußt bin ich auf der Suche nach unbekannten Flecken im Rheinland, deren hohe Anzahl mir dauerhaft beweist, wie wenig ich meine eigene Heimat kenne. Aus dem Rheintal habe ich mich von Bad Honnef  aus hoch gearbeitet. Langgestreckt ist der Schwung, mit dem die Kurve ausholt. Diesmal folgt mein Rennrad nicht dem Knick der Kurve, sondern an dem Wanderparkplatz mache ich eine Kehrtwendung, eine Stichstraße steigt durch dichten Wald mächtig an, die Vision einer Lichtung umreißt ihr Ende. Unberührtheit und Abgeschiedenheit breiten sich auf einer Wiese jenseits von Bad Honnef aus. Die Servatius-Kapelle beeindruckt mit ihrem zartgelben Anstrich.

Die Frage bohrt sich in mir fest, wieso dieser Heilige, der einhundertfünfzig Kilometer westlich in den Niederlanden in Maastricht begraben ist, ins Rheinland gekommen ist. Auf der Lichtung strahlt die Servatius-Kapelle eine ausgewogene Harmonie aus. Tannen und Ahorn rahmen den schmalen Baukörper ein. Das Tageslicht fließt durch die kleinen, zusammen gepressten Rundbogenfenster hindurch.

Grabkammer in Maastricht
Ein unendlich große Lücke klafft. Die Jahreszahl 1755 über dem schmalen, vergitterten Fenster liegt um Größenordnungen von derjenigen Jahreszahl entfernt, die sich vor seinem Grab befindet. Virtuell reise ich von Bad Honnef nach Maastricht in den Niederlanden. In Kellergewölben, hinter einer verschlossenen Eisentüre, ruht der Heilige Servatius in der Krypta der gleichnamigen Kirche. Sein Grab ziert die Aufschrift „Sepulture de St. Servais 384“. Dabei leuchtet die Jahreszahl 384 magisch in mir auf, denn diese Jahreszahl fällt in die römische Antike. Zu dieser Zeit bröselte das römische Reich weg, durchdrungen von wilden Germanen, aber satte eintausendfünfhundert Jahre liegen zwischen diesen beschaulichen Stätten in Maastricht und Bad Honnef. Bad Honnef ist kein Einzelfall: weitere Kirchen in unserer Nähe in Siegburg, Bonn-Friesdorf, Bornheim, Hennef-Winterscheid und Köln-Ostheim tragen den Namen dieses Heiligen aus den Niederlanden.

Die Wege, wie Heilige importiert und exportiert wurden, sind undurchdringlich bis verworren, zumal ein offzielles Verfahren zur Heiligsprechung durch den Papst erstmals 990 belegt ist. Heilige sind Leitbilder, haben Vorbildfunktion und verkörpern eine Richtschnur menschlichen Handelns. Damals wurden sie so verehrt wie heutzutage Helden, Stars und Idole. Heilige mussten ein Leben voller heroischer Tugend gelebt haben oder Wunder gewirkt haben. Märtyrer, Bischöfe, Mönche, Gelehrte, allgemein: Menschen, die jede Menge Gutes getan hatten, konnten heilig gesprochen werden. Jede Stadt, jede Region, jedes Land bekam ihre Heiligen. Um ihre Vielzahl zu überschauen, muss man sortieren. Wichtig oder unwichtig, lokal, regional oder im gesamten Christentum kursierend; dabei wäre der Heilige Servatius in die mittlere Kategorie einzusortieren, denn seine Existenz beschränkt sich auf  die Niederlande, Belgien und Deutschland. Heilige als Exportgut. Das gilt vor allem für die Apostel, die Evangelisten oder Märtyrer aus der Zeit der Christenverfolgung im römischen Reich.

Die Geschichte des Heiligen Servatius ist schnell erzählt. Als sich das Christentum im römischen Reich gefestigt hatte, wurden die größeren römischen Städte zu Bischofssitzen, darunter auch Tongeren im heutigen Belgien. Als Bischof von Tongeren reiste Servatius nach Rom, wo ihm in einer Vision vorhergesagt wurde, dass die Stadt Tongeren durch plündernde Hunnen zerstört wurde. Servatius reiste zurück, warnte die Einwohner von Tongeren, verlegte den Bischofssitz nach Maastricht, das dann von den plündernden Hunnen verschont wurde.

Eingang mit der Jahreszahl 1755
Die Erbauer der Servatius-Kapelle in Bad Honnef haben sich wohl gedacht, dass doppelt besser hält, denn ich finde den Heiligen gleich zweimal, das erste Mal als Skulptur in einer Mauernische, das zweite Mal im neugotischen Altar. Das Innere der Kapelle ist ausgewogen, nicht überladen, schlicht und einfach hübsch. Ich spüre, wie ich zur Ruhe komme. Ein Ort der inneren Einkehr. Ebenso ein Ort der Inspiration, wo ich stillstehe und gleichzeitig Ideen und Gedanken in einer solchen Fülle entstehen, dass ich sie nicht festhalten kann.

Die Jahreszahl 1755 über dem Eingang markiert einen Wendepunkt, denn sie war nach ihrer Zerstörung neu aufgebaut worden.

„In schwerer Zeit um 1755
Wurde ich durch emsigen Fleiß erbaut
Manch Pilger hier auf St. Servatius Hilf vertraut
Nun schlug der Krieg mir tiefe Wunden
Doch treue Helfer haben sich gefunden
Die in der Not zu helfen sind bereit
Hast Du ein Scherflein für zu spenden
Soll Dank und Segen Dir der Himmel senden.“

So formuliert eine hölzerne Tafel im Inneren die höfliche Bitte. Doch welcher Krieg ist gemeint ? Manches bleibt Spekulation. Kriege, die das Rheinland verwüstet haben, liegen weit weg. 1714 war der spanische Erbfolgekrieg zu Ende gegangen, Napoleonische Truppen fielen erst 1795 im Rheinland ein.

Auf der Waldlichtung verhüllt sich die Servatius-Kapelle in Schweigen, denn sie verbirgt ihr tatsächliches Alter. Zurück blickend, wurde die Servatius-Kapelle 1670 erstmals in den Chroniken eines Franz Xaver Trips erwähnt. Die Pest hatte im Rheinland gewütet, und die Menschen wollten der Seuche begegnen, indem sie beteten und Gott herauf beschworen. Christen aus Bad Honnef und Aegidienberg, die eine Christengemeinde im Rheintal und die andere auf den Höhen des Siebengebirges, taten sich zusammen und riefen eine Prozession zur Servatius-Kapelle ins Leben. Wie alt die Servatius-Kapelle wirklich ist, weiß indes niemand, da Quellen vor 1670 fehlen. Darüber darf nun spekuliert werden. Eine Spekulation nennt ein Datum um 1550, da erstmals in den Quellen eine Grenzmarkierung zwischen den Löwenburger Herren und Hunferode (heute Bad Honnef) genannt werden. Die Stelle der Grenzmarkierung könnte mit der Servatius-Kapelle übereinstimmen.

Skulptur des Heiligen Servatius
Wenn ich zurück rechne, ist die Zeitdifferenz von eintausendeinhundert Jahren riesig, dass Servatius in Maastricht begraben worden ist und im Siebengebirge diese Kapelle gebaut worden ist. Heilige werden kopiert, exportiert, importiert, globalisiert. Dazwischen hängt der mittelniederländische Dichter Heinrich von Veldeke, der um 1150 geboren wurde. Dichtkunst gab es seit der Antike, und in der frühhöfischen Epik haben Dichter im Mittelalter das Leben ihrer Helden dargestellt. Heinrich von Veldeke war fasziniert vom Heiligen Servatius, er schrieb, dichtete, erzählte seine Lebensgeschichte rauf und runter, stilisierte ihn als Helden.

Nun  geschah erstaunliches innerhalb der engen Grenzen des mittelalterlichen Europas, denn es muss Verbindungen von der mittelniederländischen Dichtkunst nach Bayern gegeben haben, denn 1169 erschien die Legende des Heiligen Servatius in den Schriften des Otto von Wittelsbach – der gehörte dem bayrischen Adel an. Fortan wurden Kirchen in Bayern dem Heiligen Servatius geweiht. Wechselwirkungen zwischen Fürstentümern und Staaten entstanden im Mittelalter mit einem Zeitversatz von Jahrhunderten. Der Heligen Servatius wanderte von den Niederlanden nach Bayern und dann ins Rheinland, was auf die merkwürdige Konstellation zurückzuführen ist, dass die Bayern im Rheinland zweihundert Jahre lang das Sagen hatten.

Das hing wiederum mit der Reformation zusammen. Als der Kölner Erzbischof Truchseß von Waldberg drohte zum Protestanten zu konvertieren, riefen die Kölner Kurfürsten 1583 bayrische Truppen zu Hilfe, die den Kölner Erzbischof vertrieben und einen Bischof aus dem Hause Wittelsbach einzusetzen. Das erklärt zum Teil eine gewisse Häufung von Kirchen im Rheinland, die dem Heiligen Servatius geweiht sind, wenngleich es auch Kirchen gibt, deren Erbauungsdatum – wie die Servatiuskirche in Siegburg – nicht in die Epoche der Wittelsbacher im Rheinland fällt.

Innenraum der Kapelle
Die Geißel der Pest ist längst ausgerottet, aber dennoch haben sich die Prozessionen bis ins 21. Jahrhundert gehalten. So ziehen, nicht anders als vor vierhundert Jahren, Gläubige aus Bad Honnef und Aegidienberg am 13. Mai gemeinsam zur Servatiuskapelle. Alljährlich. Heilige sind flexibel und passen sich den Bedürfnissen der Gläubigen an. Der 13. Mai ist gleichzeitig sein Todesdatum, der Heilige Servatius ist einer der Eisheiligen. Was damals die Pest, sind heute Frostschäden, Hagelschlag, Rheumatismus oder Fieber. Heilige sind dehnbar geworden, damit sie den Zeitgeist nicht verpassen.  So vertreibt der Heilige Servatius Mäuse und Ratten, er ist Patron der Schlosser und Tischler, er hilft Fußkranken, er wirkt Depressionen entgegen.

Vor der Ausgangstüre der Servatius-Kapelle kann ich nachlesen, dass Servatius zum Allzweck-Heiligen geworden ist. Auch heute sehnen die Menschen die Wunderkräfte von Heiligen herbei. Die Besucher der Kapelle können ihre Gedanken in einem Buch niederschreiben.

Eine Frau K. aus Haan bei Düsseldorf hat ins Siebengebirge gefunden. Sie hat mehrere Kerzen angezündet, damit der Heilige Servatius Wünsche und Träume erfüllen möge. Servatius soll helfen, dass N. ihre Krankheit überwindet. J. und K. soll er auf ihren schweren Weg ins Berufsleben begleiten. M. soll er Konzentration, Wissen und Gelassenheit auf den Weg geben, damit er seine ADR-Schein-Prüfung besteht. K. selbst steckt schlimm in der Klemme, denn sie hat Schulden, sucht einen Arbeitsplatz, aber nicht irgendeinen, sondern einen, der ihr Freude bereitet. Was ich lese, stimmt mich seltsam optimistisch. Mit K. stimme ich überein, dass die Servatius-Kapelle ein einzigartiger Fleck ist. K. bedankt sich bei L., „dass sie sie zu diesem wundervollen Ort begleitet hat“.

Ruhe und Abgeschiedenheit haben mich voll gepumpt mit Eindrücken. Sie tragen mich nach vorne. Ich verlasse mit meinem Rennrad die Waldlichtung, münde auf der langgestreckten Kurve ein und strebe weiter auf die Höhen des Siebengebirges, nach Aegidienberg.

Samstag, 3. Mai 2014

Löwenzahn

Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Fleck. Zwei, drei Tage lang pusteten sich die zarten Samen der verblühten gelben Blüten auf. Jede Pusteblume für sich ganz zerbrechlich, legten sie sich wie ein Teppich über die Wiese. Als der Nordwind blies, war die Pracht in Windeseile vorbei. Ich hatte den richtigen Moment erwischt. Wie schnell diese Momente vergehen können.






Jede Pusteblume für sich ist wunderschön. So schnell wie sie vergehen, denke ich an die Vergänglichkeit des Lebens.

Freitag, 2. Mai 2014

Generation 1964


Zugegebenermaßen, ich schaue über ihn hinweg, wenn ich Fahrt aufnehme und an ihm vorbeiradele. In Schweigen gehüllt, verhakt sich seine Metallskulptur auf dem Gehweg. Sperrig, verknoten sich seine Gesichtszüge, seine tief liegenden Augen grübeln vor sich her.

Ja, das Gesicht unseres ersten Bundeskanzlers packt all sein Ausdrucksvermögen zusammen. Aber was hat Konrad Adenauer und die 1964er-Generation gemeinsam ? Ungefähr so viel wie die CDU mit den Grünen oder die FDP mit der Mindestlohndebatte. Die Berührung entstand, da meine bessere Hälfte, mein Bruder und andere Freunde der 1964er-Generation angehören. Im letzten Jahr war ein durchschlagender Erfolg, dass ich als Geburtstagsgeschenk zum 50. Geburtstag eine Gruppenführung durch das unterirdische Köln organisiert hatte und das Geburtstagskind dazu eingeladen hatte. Gestern war es eine Führung durch das frühere Bonner Regierungsviertel, bei der wir lange an der Metallskulptur von Konrad Adenauer verweilt hatten.

Generationen definieren sich über Gegensätze. Generationen wollen sich abgrenzen, neue Denkansätze wagen, der Zeitgeist verändert sich. Ich habe den Zenit des 50. Geburtstages bereits überschritten, und es ist sogar Konrad Adenauer, der mich mit den Nachwehen seiner Ära in meiner Jugend geprägt hat. Die 68er-Bewegung war entstanden, weil die Politik von Konrad Adenauer in den Denkkategorien von Kommunismus und Kapitalismus, von  Böse und Gut, von Ost gegen West erstarrt war. Auf diesem Boden entstand das Denken der 68er Bewegung.

Dieser Geist wirkte bis in die 1970er Jahre nach, obschon ich selbst nie demonstriert habe oder auf die Straße gegangen bin. Alles war gut, was revolutionär klang. Ich befürwortete die Thesen eines Karl Marx, Che Guevara oder Fidel Castro, weil sie einen echten Gegenentwurf zum Bild des Kapitalismus darstellten. In der Schule wurde ich aber auch mit dem Positivbild des Kapitalismus konfrontiert, als das magische Quadrat des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes aus dem Jahr 1967 gelehrt wurde. Kapitalismus ist gut, wenn sich Preisniveau, Beschäftigung, Außenwirtschaft und Wirtschaftswachstum im Gleichgewicht befinden. Die Regierungen handelten nach diesem Prinzip, um das Wohlstandsniveau zu maximieren. Während der Regierungszeiten von Willy Brandt und Helmut Schmidt bröckelte die Vollbeschäftigung ab, aber in meiner Generation reichte es, um relativ unkritisch eine Lehrstelle und eine Beschäftigung am Arbeitsmarkt zu bekommen.

Für die 1964er-Generation hatten sich die Rahmenbedingungen geändert. Die Lehrstellensuche auf dem Arbeitsmarkt, das haute noch hin. Aber danach ? Die 1964er-Generation geriet in die politische Zeitenwende hinein, die den Wechsel in die Ära eines Helmut Kohl einläutete. 1983 inszenierte er eine geistig-moralische Wende, wobei sich die instabile Arbeitsmarktsituation eher verschlechterte als verbesserte. Die Vollbeschäftigung war längst Vergangenheit, die Zyklen der ökonomischen Rahmenbedingungen verkürzten sich, und wegen der hohen Lohnkosten wanderten Unternehmen zunehmend ab. Die Suche nach einer Beschäftigung wurde deutlich mühseliger. Ein Arbeitsvertrag konnte zur Hängepartie werden oder auch in die Arbeitslosigkeit führen, wenn er nicht zustandekam.

Auch ideologisch ist die 1964er-Generation anders geprägt. Es wurde demonstriert, aber das war kein all-umfassender Schlag gegen die Facetten des Kapitalismus oder gegen einen Vietnam-Krieg, in dem USA immer brutaler gegen einen Zwerg auf dem Weltglobus ihren Krieg führten. Die verknöcherte Gesellschaft, die ein Rudi Dutschke angeprangert hatte, hatte sich teilweise aufgelöst, weil mehr und mehr Nazis, die sich in Führungspositionen wieder fanden, verstorben waren oder in die Altersdemenz gewandert waren.

Der Protest war punktuell. So anläßlich des NATO-Doppelbeschlusses 1982, als speziell auf den Wiesen des Bonner Hofgartens Hunderttausende demonstrierten. In der 1980er-Jahren kam eine neue Bewegung dazu, das war die Umweltbewegung, die neue Felder der Demonstration besetzte. Sie nahm die Gedanken des Club of Rome auf, dass Wirtschaftswachstum an Grenzen stieß und ein Übermaß an Umweltzerstörung hinterließ. Die 1964er-Generation rebellierte gegen saurer Regen, Plastikmüll, Dioxinskandal, Startbahn West und vor allem Kernenergie, und sie schaffte es, die Planung von Atomkraftwerken in Wyhl, Kalkar, Wackersdorf oder Mülheim-Kärlich zu stoppen.

Die 1964er-Generation hat Zeichen gesetzt. Mit der 68er-Bewegung verbinde ich noch Revolution, weil all die Machtgebilde, die uns über die Politik oder die Wirtschaft vor die Nase gesetzt werden, umgestürzt werden sollten. Mit der Aufbruchstimmung der 68er-Bewegung verband ich vor allem sehr viel Freiheit.

Die 1964er-Generation ist mit Raumschiffe Enterprise und Bonanza aufgewachsen, mit Captain Kirk und Little Joe. Diese Helden lebten auch ihre Freiheit, aber sie stellten die Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft weniger in Frage. Sie fügten sich wieder in enge, heimische Strukturen hinein. Sie waren Abenteurer im Weltall oder auf der Ponderosa Ranch. Sie bereisten die Welt, um ein globales Denken zu erlernen.

Sie waren pragmatisch, ein Stück zurückfallend, wie Konrad Adenauer es war, der die Machtverhältnisse in der Wirklichkeit akzeptiert hatte. Das war Anpassung in kleinen Schritten, aber keine Revolution. Mit den Veränderungen hat so mancher bei sich selbst angefangen. Die 1964er-Generation geht sensibler mit der Umwelt um. Sie leben vor und zielen auf das Verhalten ihrer Mitmenschen, um die Welt in kleinen Schritten zu verändern. Auf ihre Art und Weise haben diejenigen, die in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag feiern, ihre Größe. Karl Marx, Che Guevara oder Fidel Castro werden sie weniger verinnerlicht haben.

Der Zyklus von Gruppenführungen und 50. Geburtstagen wird sich im Sommer fortsetzen. Dann habe ich eine Gruppenführung durch Maastricht/Niederlande organisiert. Die Häufigkeit von 50. Geburtstagen dürfte jedenfalls so hoch wie nie sein. Denn der Jahrgang 1964 ist als Baby-Boomer der geburtenstärkste Jahrgang in der Geschichte der Bundesrepublik.

Herzlichen Glückwunsch an all die 50-jährigen Geburtstagskinder in diesem Jahr !