Donnerstag, 26. Juni 2014

mit dem Rennrad nach Eitorf

Rhöndorf, Kapelle
Manchmal bin ich träge, wenn ich meine Touren auswähle. Ich greife auf Touren zurück, die ich kenne und die ich häufig gefahren bin. Und die landschaftlich so schön sind, dass sie mich jedes Mal aufs neue überwältigen. Die Streckenführung kenne ich wie im Schlaf, auf jeder Tour entdecke ich neue Details. Die Eindrücke bleiben haften und sind so frisch, als hätte ich mich neu verliebt. Die Tour nach Eitorf ist eine solche Tour. Zudem bietet sie  einen weiteren Vorzug: sie entspricht ziemlich genau meinem Leistungsvermögen. Achtzig Kilometer gehen an meine Leistungsgrenze, dazwischen eine Pause in Eitorf. Und auf der zweiten Hälfte, in der die Anstiege im Siegtal zahm sind, werden meine Beine schwer.

Doch zunächst muss ich das Rheintal verlassen und die Höhenzüge des Siebengebirges hinauf steigen. Alter Zoll, über die Kennedybrücke nach Beuel, den Radweg immer den Rhein entlang, Königswinter, in Rhöndorf halte ich mich links zur Hauptstraße, dann rechts, geradewegs nach Bad Honnef, wo mich die protzige Villen am Straßenrand entzücken, am Kurviertel vorbei, an der Fußgängerzone vorbei, dann links. Geradeaus folge ich der Beschilderung nach Aegidienberg, hinter dem Ortsausgangsschild und dem Sportplatz zieht die Steigung an. 5,8 Kilometer kurvenreiche Strecke liegen vor mir, dies verspricht das Straßenschild. Das Versprechen ist voller Spannung. Aus einer zugewucherten alten Fabrik ragt ein Schornstein heraus, Graffitis leuchten in prallem Blau auf einer Verteilstation der Stadtwerke Bad Honnef, das Jagdhaus Schmelztal unterstreicht seine Bedeutung mit einem Hirschgeweih an der Fensterfront. Die 5,8 Kilometer kurvenreiche Strecke rauschen wie im Traum vorbei, ich trete im mittleren Gang, der Anstieg ist nicht allzu bissig, so dass ich meine Kräfte einteilen kann. Hinter einer Kurve mit einem Wanderparkplatz zieht der Anstieg auf seinem letzten Stück an, der Wald geht in Wiesen über, die ersten Häuser von Aegidienberg rücken in Sichtweite.

5,8 Kilometer kurvenreiche Strecke
Aegidienberg ist einzigartig, was die Logistik des Rennradfahrens betrifft. Am Kreisverkehr, in Ortsrandlage, befindet sich nämlich ein Fahrradgeschäft, das reichlich Rennräder anbietet. Schlauch, Mantel, Werkzeug, gerne habe ich mich dort mit allem nützlichen versorgt, um Pannen gewappnet zu sein.

Am Kreisverkehr halte ich mich rechts, ich trete gemächlich, aber es geht immer noch den Berg hinauf. An der nächsten großen Ampel biege ich nach links ab, ich folge der großen Welle des Autoverkehrs, der auf die Autobahnauffahrt der A3 zustrebt. Ein, zwei, drei Kreisverkehre reihen sich in Rottbitze aneinander. Discounter und Handwerksbetriebe zerstreuen sich am Waldrand. Nachdem der Troß der Autofahrer auf die Autobahn eingebogen ist, folge ich der Straße geradeaus und kann ich in aller Ruhe genießen, wie es bergab geht. Zufrieden schaue ich nach vorne, wie sich der gerade Strich der Straße nach unten zieht. Großzügig breitet sich ein Streifen von Gras am Straßenrand aus, dahinter stemmt sich all die Wucht des Mischwaldes in die Höhe.

Nachdem ich die Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz überquert habe, öffnet sich das Gelände. Ich bin in der Musser Heide angelangt. Ich biege nach links ab Richtung Buchholz und ich bin entzückt, welch ein großer Blütenteppich auf der Wiese blüht, eine Sinfonie in Farben. Und es ist merkwürdig, dass dieses Farbenmeer gar nicht weit weg von einem Flugplatz liegt, der sanft eingebettet ist zwischen Siebengebirge und Westerwald. Den Flugplatz sind die Nationalsozialisten schuld. Fluglärm brauche ich keinen zu fürchten, denn lautlos betreiben Segelflieger dort ihren Freizeitsport.

Musser Heide
„Muss“ leitet sich von „Moss“ ab, was so viel wie Moor bedeutet. Davon bin ich nicht weit entfernt, denn auf der Asbacher Hochfläche breitet sich tatsächlich das Natuschutzgebiet „Buchholzer Moor“ as. Das Gelände, nass, landwirtschaftlich nicht nutzbar, nur Fichten, Kiefern oder Heide können dort wachsen, bebauten die Nationalsozialisten 1935, oder vielmehr das Luftgaukommando in Köln. Der Flughafen hatte die Besonderheit, dass er vom Feind nicht erkannt werden sollte. So wurde ein Wohnhaus, ein Geräteschuppen und eine Scheune auf dem Flugplatz stehen gelassen. Sogar Vieh wurde in einem Stall gehalten, während die Hangars den Formen der Scheune angepaßt wurden. Sorgfältig ging man auch mit einer Kapelle um, die abgetragen wurde und jenseits der Landstraße wieder aufgebaut wurde. Nach Kriegsende ging ein Teil des Flughafens in den Besitz der Bundeswehr über, die hinter dem Segelflugplatz Munitionsdepots unterhält.

An der nächsten Querstraße halte ich mich weiter in Richtung Buchholz und biege nach rechts ab. Seicht rolle ich den Berg hinunter, während sich Buchholz mit dem markanten weißen Kirchturm nähert. Pfusch am Bau wurde betrieben, als die Kirche 1862 gebaut wurde. Der Sand aus den Sandgruben bei Buchholz enthielt Salpeter, so dass der Mörtel mit der Zeit zerbröselte und die Kirche einzustürzen drohte. Es führte kein Weg daran vorbei, dass die Kirche abgerissen werden musste. Dem neuen Kirchtrum, der 1971 gebaut wurde, sieht man sein junges Alter nicht an. Ich hätte ihn glatt in das Mittelalter eingeordnet.

Kirchturm in Buchholz
Hinter Buchholz geht es mal rauf, mal runter, aber alles in Maßen. Wallroth und Oberscheid heißen die nächsten Dörfer. Die Höhen des Westerwaldes waren stets dünn besiedelt, das war schon bei den Römern so. Auf der rechten Rheinseite hausten die wilden Germanen, und diese mussten sich die Römer vom Leib halten. Daher waren die Höhen des Westerwaldes eine Art Pufferzone, in der sie alle Ansiedlungen gnadenlos nieder brannten, die ihnen in den Weg kamen. Umgekehrt versuchten sie, die germanischen Stämme für sich zu gewinnen und in ihren Römerstädten anzusiedeln. Die Römer gingen, die Franken kamen. Diese bauten ihre Behausungen in den fruchtbaren Tälern der Pleis, Sieg oder Wied, aber nicht hier auf der Höhe. Hinter Oberscheid besticht der Fernblick in seiner Klarheit und ich schaue vorläufig ein letztes Mal auf das Siebengebirge zurück.

Ich kreuze die Bundesstraße B8, die früher als Handels-, Heer- und Poststraße quer durch den Westerwald bis nach Leipzig führte. Nicht weit von dieser Kreuzung wurde eine der größeren Schlachten des Rheinlandes geschlagen, die 1796 als „Schlacht von Kircheib“ bekannt wurde, kaum Eingang in die Geschichtsbücher fand, aber dafür um so blutiger endete. Im Zuge der französischen Revolution verlangten Preußen und Österreich von Frankreich, dass der abgedankte Sonnenkönig Ludwig XIV. wieder als Alleinherrscher eingesetzt werden sollte. Preußische und österreichische Truppen griffen Frankreich an, als die Regierenden dies ablehnten. Daraufhin schlugen französische Truppen zurück, sie drangen ins Rheinland ein, sogar bis auf die rechtsrheinische Seite. Nahe der B8 richteten die Franzosen ein Feldlager für 20.000 Soldaten ein, das sie mit Schutzwällen und Schützengräben befestigten.  Im Morgengrauen des 19. Juni 1796 kam es zu ersten Gefechten, als österreichische Truppen, die mit 14.000 Soldaten weit unterlegen waren, das französische Lager angriffen. Die Österreicher sollten dennoch die Franzosen eine vernichtende Niederlage beibringen, weil ein Späher die Stärke des österreichischen Heeres falsch einschätzte. Er meldete seinem Brigadegeneral 35.000 österreichische Soldaten, die das Lager von beiden Richtungen der Heerstraße umgaben. Der Brigadegeneral kommandierte daher nur die Hälfte seiner Soldaten auf die Höhen von Kircheib, wo die Österreicher sie auf dem karg bewachsenen Gelände zuerst mit Kanonen beschossen und dann mit ihren Bajonetten aufspießten. 2.500 französische Soldaten wurden getötet, aber nur 500 österreichische.

letzter Blick auf das Siebengebirge im Hintergrund
Hinter der Kreuzung kann ich meine Beine baumeln lassen, denn bis Eitorf kann ich zehn Kilometer mitreißende Abfahrt genießen. Ich bin überwältigt, wie die Straße sich windet, biegt, krümmt, Schlangenlinien zieht, die Undurchdringlichkeit des Waldes aufreisst. Ich radele vorbei an sonnenbeschienen Wiesen, dem glucksenden Eip-Bach und Tannen, die in den Himmel ragen. Meine Glücksgefühle nehmen kein Ende, bis ich den Ortseingang von Eitorf erreiche. Der Kraftaufwand ist mäßig, ich muss wieder in die Pedale treten, ich fahre in Eitorf hinein über die Asbacher Straße. Graue Mietskasernen am Waldrand sind so platt, dass sie mich an Bauten in der früheren DDR erinnern. Fassaden aus rostbraunen Ziegelsteinen bröckeln. Ich rumpele an einer Baustelle vorbei. Beschaulichkeit sieht anders aus.

Der Marktplatz im 1960er-Jahre Stil gehört nicht gerade zu den Top-Sehenswürdigkeiten, doch ich habe mich an Eitorf gewöhnt, vielleicht, weil es nicht abgedreht ist und authentisch wirkt. An dem Rathaus, einem phantasielosen Zweckbau, ist die Fensterfront so grau wie die heruntergelassenen Jalousien. Auf dem Marktplatz muss ich mich an parkenden, suchenden und herumkurvenden Autos vorbei wursteln. Zu Fußball-WM-Zeiten gelingt es der einen oder anderen Deutschland-Fahne, die Häuserfronten aus der Umklammerung der Eintönigkeit zu befreien.

Die Ruinen des Marktplatzes haben die Eitorfer in einem schwarzen Viereck verewigt. Das sind schwarze Pflastersteine, deren Formen ein Viereck zeichnet, das wiederum an die Umrisse des einstigen Kirchturms erinnert. 1144 wurde die „villa Eythorp“ in einer Urkunde des Stiftes Bonn-Vilich erstmals erwähnt, fast zeitgleich wurde um 1150 wurde die romanische Kirche fertiggestellt. Dreißigjähriger Krieg, Pfälzischer Erbfolgekrieg, Spanischer Erbfolgekrieg, Siebenjähriger Krieg, bis in das 18. Jahrhundert hinein waren große Teile des Rheinlandes wie ausgemergelt, ausgelaugt und verödet. Hinzu kam, dass Eitorf inzwischen zum Herzogtum Berg gehörte, welches von Düsseldorf aus regiert wurde. Weit entfernt von der Hauptstadt, schwand das Interesse der Herzöge. So kam es, dass zwar Handwerker aus Eitorf die Wände des Mittelschiffes neu vermauerten. Die Regierung in Düsseldorf zahlte ihnen aber keinen Lohn, weil sie ihre eigenen Architekten hatte, und diese suchten sich wiederum ihre eigenen Handwerker aus.

So verfiel die Kirche und wurde schließlich so baufällig, dass sie nicht mehr benutzt werden konnte. 1889 wurde ein Neubau südlich des Marktplatzes beschlossen. Beim Bau der neuen Kirche wurde das Kirchenschiff der romanischen Kirche abgetragen, während der Turm stehen blieb. Dieser behauptete seine Stellung, ohne  einzustürzen. Das blieb so bis zu den Geschehnissen des 17. März 1945.


Eitorf - Rathaus (oben) und Marktplatz (unten)
Eitorf hatte es in seinen letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs übel erwischt. Die militärische Lage war hoffnungslos. Am 7. März 1945 hatten die Alliierten bei Remagen den Rhein überschritten. Truppen und Panzer wälzten sich durch das Siegtal voran, zum Durchmarsch nach Westfalen. Das Ende kam mit Schrecken, denn die militärischen Befehlshaber richteten ihren Terror nun gegen die eigene Bevölkerung. So befahl Himmler Ende März 1945, alle männlichen Einwohner in Häusern zu erschießen, die dem Feind eine weiße Fahne zeigten. Der Oberbefehlshaber West im Rheinland, Walter Model, konkretisierte diesen Befehl: „Alle, die abseits ihrer Einheit auf Straßen, in Ortschaften, in Trossen oder Ziviltrecks, auf Verbandsplätzen, ohne verwundet zu sein, grundlos angetroffen werden und angeben, noch versprengt zu sein und ihre Einheit zu suchen, sind standrechtlich abzuurteilen und zu erschießen". Selbst in dieser aussichtslosen Lage teilte er dem Führer mit: „Der Sieg der nationalsozialistischen Idee steht außer Zweifel, die Entscheidung liegt in unserer Hand.“

Diese Botschaft hatte Wurzeln geschlagen und war im Siegtal angekommen. Bei Merten und Eitorf hatten sich Widerstandsnester „deutscher Ritterkreuzträger“ gebildet, die den Glauben an den Nationalsozialismus hochhielten und bis zur letzten Patrone kämpften. Diese letzten Widerstandskämpfer schafften es, dass die Schlacht um Eitorf sich achtzehn Tage lang in die Länge zog – sie begann am 21. März und endete am 7. April. Zweimal wurde Eitorf bombardiert, darüber hinaus lag sie unter Dauerbeschuss von schwerem Artilleriefeuer, unterstützt von Jagdbombern. Erst nach zähen Häuserkämpfen eroberten die Alliierten die Stadt. Während des Luftangriffs versank der alte Kirchtum am 17. März 1945 in Schutt und Asche, so wie der Marktplatz und weite Teile der Stadt. In der Nachkriegszeit beschlossen die Verantwortlichen der Stadt, den Turm nicht wieder aufzubauen und ihn in den schwarzen Viereck zu verewigen.

Pause an der Imbissbude
Da die einzige Gaststätte am Marktplatz mit Außengastronomie um die Nachmittagszeit geschlossen ist, muss ich mich noch ein Weilchen abstrampeln. An der nächsten großen Kreuzung biege ich links ab, ich folge dem Hinweisschildern in Richtung Hennef. Nach einem Kilometer ist es soweit, denn ich mache am Straßenrand Pause. Die beiden Flaschen Pils, die ich in einem Imbiss trinke, vollbringen eine Wohltat, denn sie sind erfrischend kühl. Geruhsam lasse ich den Straßenverkehr vorbei rauschen. Ich schaue die Anhöhe hinauf, die ich bald hoch schleichen werde.

Man könnte fragen, wieso ich mir die Landstraße L333 durch das Siegtal antue. Auto drückt sich an Auto, Stoßstange an Stoßstange. Glücklicherweise ist die Richtung Hennef deutlich weniger frequentiert wie diejenige Richtung Eitorf. Anfangs war es ein Stück Bequemlichkeit, weil ich immer nur geradeaus fahren wollte. Nun sind es die Kurven und Schleifen, die die Sieg zieht und denen die Landstraße folgt. Vor allem sind es diejenigen Abschnitte – bei Merten und hinter Bülgenauel – an denen die Straße zwischen der Sieg und den Felswänden regelrecht eingequetscht wird. Ruhig, seicht und glatt, schimmert die Wasseroberfläche der Sieg zwischen Buschwerk hindurch. In schmalen Ritzen fällt das Sonnenlicht auf die Straße,  während die Felswände senkrecht auf der anderen Seite empor steigen und auf deren Spitze hartnäckiges Strauchwerk die Stellung hält. Und bei Bülgenauel traue ich kaum meinen Augen, wie der schroffe Felsen von einer Burgruine gekrönt wird: das ist Blankenberg, in seiner Wortentstehung hieß der Flecken „auf dem blanckenberge“, dies bestätigte jedenfalls der Kölner Erzbsichof Philipp von Heinsberg 1171. Ich schaue aus dem Tal auf die in luftiger Höhe hängende Ruine, die schwindet, je mehr die Straße auf die Felspartie zuläuft.

Felsen auf der Landstraße L333
Ich wundere mich, dass all die Rheinromantiker und Literaten es im 19. Jahrhundert bis an die Ahr und in die Eifel geschafft haben, aber kaum ins Siegtal. Die spröde Schönheit beeindruckt, die harten Konturen des Geländes reißen mit. Die Ruhe, die das gemächliche Flußbett der Sieg vermittelt, steht der Schönheit der Flußtäler auf der anderen Seite des Rheins um nichts nach.

Man könnte das Siegtal als Geheimtipp bezeichnen. Ferdinand Freiligrath oder Karl Simrock, Clemens Brentano oder Gottfried Kinkel, all diese Rheinromantiker, die von Burg zu Burg wanderten, schafften es nicht vom Rhein an die Sieg. Ernst Moritz Arndt, der den Rhein, das Ahrtal und die Eifel in- und auswendig gekannt haben muss,  widmet in seinen Wanderungen gerade eine schlappe Seite der Sieg: „Die Gegend an der Sieg ist überhaupt merkwürdig genug, zuerst durch ihre vortrefflichen Wiesenbewässerungsanstalten, und weil ihre Berge den besten Stahl Deutschlands liefern.“

Stahl ? Hüttenwerke liegen an der anderen Ecke der Sieg, bei Siegen, und anstatt dessen betrete ich Neuland. Ich teste den Siegtalradweg. Im Siegtal rühren die verantwortlichen Tourimus-Manager fleißig die Werbetrommel. Die Anzahl der Übernachtungen steigt. Wanderer locken sie mit dem Natursteig Sieg. Von Windeck bis zur Mündung in den Rhein begleitet ein durchgängiger Radweg die Sieg. Am ersten Sonntag im Juli geht dann das große Event für Fahrradfahrer los – „autofreies Siegtal“. Ich war nie da, vor allem die S-Bahn-Züge müssen vollgestopft sein mit Fahrradfahrern, haben Freunde uns erzählt.

die Sieg - einfach schön
Ich mag es ruhiger, so wie heute, und an den ersten Häusern von Hennef-Stein folge ich dem Fahrradsymbol des Siegtalradweges, nach wenigen Metern biege ich wieder links ab. Ich bin gelandet in der Abgeschiedenheit von Feldern. Anfangs gleitet der Fahrradweg auf einem gut befestigten Schotterweg dahin, der nach der nächsten Querstraße auf einen Teerweg wechselt.

Ich bin nicht immer ein Freund von Radwegen entlang von Flüssen, weil sie manchmal in Zickzack-Form verlaufen, Umwege produzieren, am Wochenende bei schönem Wetter zu stark frequentiert sind oder auch an manchen Stellen als Feldweg für Rennradfahrer ungeeignet sind. Hier an der Sieg läßt es sich gut aushalten. Ich halte Blickkontakt mit dem Fluß, der sich durch sein Bett windet, träge und mit einem Schuß Leichtigkeit. Ich lasse mich tragen von der Stimmung, bemerke am Rande, dass das Tal breiter wird, während Kleckse von Häufchenwolken den Sonnenschein nicht trüben. Und beiläufig bemerke ich ein anderes Hindernis: zwischen den flach auslaufenden Mittelgebirgsrändern weht der Wind zwar nicht stramm, aber unentwegt aus Nordwest. Ich spüre ihn, wie er sich meinem Körper entgegen stellt. Einige Reserven muss ich aus meinen Beinen heraus holen, meine Tritte werden schwerfällig. Ich radele durch bis zum Ziel, das beschließe ich.

Hinter Weldergoven biege ich ab, ich fahre quer durch Hennef, die Frankfurter Straße entlang, dann nach Geistingen, am Kreisverkehr rechts, an der Ampel vor der Mundorf-Tankstelle links, immer geradeaus bis zum Ortsausgangsschild, vorbei an der Bauschuttdeponie in Niederpleis, in Stoßdorf folge ich der Fahrradbeschilderung zurück an die Sieg, in Friedrich-Wilhelms-Hütte wechsele ich über die Brücke auf die andere Seite der Sieg, weiter die Sieg entlang bis zur Autobahnauffahrt Bonn-Beuel, nach Schwarz-Rheindorf, wieder zurück zum Alten Zoll.


Strecke (84 km):


Höhenprofil:


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Freitag, 20. Juni 2014

mit dem Rennrad nach Overath

Es gibt Rennradtouren, die haben kein richtiges Ziel. Ziel ist vielmehr die Landschaft. Nicht überall liegen historische Städte mit schönen Marktplätzen, alten Fachwerkhäusern und beschaulichen Gassen. So führt mich diese Rennradtour nach Overath. Overath ist nicht wirklich schön. Mit seiner romanischen Kirche ist es zwar alt, hat aber keine richtige Struktur, weil es sich als Verkehrsknotenpunkt auf Verkehrswegen entwickelt hat. Umgekehrt halten sich die Stilelemente moderner Architektur zurück, es ist nicht chaotisch zugebaut. Overath stößt mich nicht ab. Also „mainstream“, so würde man mit diesem neumodischen Wort sagen.  Der Weg ist das Ziel. Und um die schönen Seiten des Bergischen Landes kennen zu lernen, liegt Overath idealerweise auf der Wegstrecke. Rasch habe ich festgestellt, dass das Bergische Land vielleicht nicht so spektakulär, aber nicht weniger schön ist als die Eifel oder das Siebengebirge.

Über Beuel geht es an der Doppelkirche von Schwarz-Rheindorf vorbei, an der großen Ampel, wo der Autoverkehr an der Autobahnauffahrt Bonn-Beuel-Nord stets dicht ist, halte ich mich in Richtung Niederkassel. An der Bushaltestelle biege ich nach rechts ab auf den Radweg über den Siegdamm. Es geht immer die Sieg entlang, vorbei an Meindorf, an den Mannstaedt-Werken in Troisdorf, bis nach Siegburg, unter die Unterführung des Autobahnzubringers hindurch, wo ich mich nach links auf die Hauptstraße einfädele.

Ich muss quer durch Siegburg, das ist unvermeidbar. Über den Kreisverkehr, unter die Bahnunterführung (immerhin auf separatem Fahrradweg), an der Ampel vor dem Kreishaus geradeaus, immer geradeaus über die Mühlenstraße, bis ich in der Fußgängerzone lande. Ich kann nicht anders: absteigen, zweihundert Meter durch die Holzgasse schieben.

Bahntrassenradweg Siegburg
Am Ende der Fußgängerzone kann ich durchstarten, denn linkerhand beginnt der Bahntrassenradweg, der Ende letzten Jahres fertiggestellt wurde. Bis 1954 fuhr die Eisenbahn zwischen Siegburg und Overath, das sogenannte „Luhmer Grietche“, bis 1988 verkehrten Güterzüge nach Lohmar. Nun kann ich auf der alten Bahntrasse fleißig Fahrradfahren, wobei anfangs, innerhalb des Stadtgebietes von Siegburg, all die Absperrungen nerven, wenn Straßen die frühere Bahnstrecke kreuzen. Das ändert sich, als der Radweg in den Wald eintaucht, und dort sind die alten Schienen übrig geblieben, denn der Radweg verläuft unterhalb der mit Unkraut und lauter Gestrüpp zugewucherten Bahnlinie. Die Strecke führt vorbei an Fischteichen, unterquert die B56 und endet nach zwei Kilometer auf der Höhe der Autobahnauffahrt zur A3.

Entlang der B484 ist der Radweg etwas mühselig, denn er begleitet die linke Seite der Fahrbahn, nicht abgetrennt durch einen Grünstreifen. Es geht vorbei an Werkstoren und Fabrikhallen, in Lohmar halte ich mich links in Richtung Altenrath und Troisdorf, vorbei an der steingrauen Kirche, die in ihrem Ursprung romanisch aussieht, aber erst 1900 in neu-romanischem Stil ihr heutiges Aussehen erhielt. Am Hotel „Zur Fähre“ überquere ich die Agger, die Straße steigt kräftig an und flaut anschließend rasch wieder ab. Ich fahre geradeaus zum Kreisverkehr, dort wieder geradeaus, während die Straße rechts nach Altenrath abbiegt.

Wahner Heide bei Altenrath
In Altenrath, das zu Troisdorf gehört, bin ich längst in der Wahner Heide angekommen. Diese war Truppenübungsgelände und wurde zuletzt bis 2004 zuletzt von der belgischen Armee genutzt. Seit 1818 war die Wahner Heide Truppenübungsplatz, als der preußische Staat einen Quadratkilometer Land gekauft hatte. Bis zum Ersten Weltkrieg vergrößerte sich das Gelände auf 3.700 Hektar. Auf dem Gelände wurden Kanonen gestestet, die immer weiter schießen konnten, um den Krieg gegen den Erzfeind Frankreich zu gewinnen. Die Detonationen der Kanonen gingen so weit, dass sich Risse in den Häusern bildeten. Da der Kaiser und die militärische Führung an den Sieg glaubten, waren die Kanonen wichtiger als das Wohl der Einwohner, so dass 1915 Altenrath zwangsgeräumt wurde. Nachdem die Menschen 1918 in ihre Häuser zurückkehren konnten, wiederholte sich unter den Nationalsozialisten dasselbe Schicksal. 1937/38 wurde der Truppenübungsplatz erweitert, und die Bewohner von Altenrath mussten abermals ihre Häuser verlassen. Aber es war nicht nur der Krieg, der den Einwohnern ihre Bleibe zu verlieren drohte. 1968 plante der Flughafen Köln/Bonn eine dritte Start- und Landebahn, die genau durch Altenrath verlaufen wäre. Doch diese Pläne wurden aufgegeben, da bis heute die vorhandenen Start- und Landebahnen für den Flugverkehr ausreichen.

Altenrath lasse ich rechts liegen und biege nach einhundert Metern nach rechts auf die Hasbacher Straße ab. Hier muss ich aufpassen, denn die Straße fristet ein Schattendasein im Niemandsland der Wahner Heide. Nichts ist hier beschildert. Einmündungen mit Sackgassenschildern muss ich beachten, denn irgendwann verläuft sich die Straße im Gestrüpp. Doch die Straße ist ein Traum, so viel Ruhe ist unglaublich, wenn nicht ab und an Flugzeuge in der Ferne wie Vögel in der Luft auffliegen würden. Gras und Gestrüpp, verblühte Heide und Kiefern weisen mir den Weg nach Rösrath. Hinweisschilder fehlen unentwegt, während ich rechterhand auf die ansteigenden Hügel des Bergischen Landes schaue. Beharrlich muss ich der Hasbacher Straße folgen, Sackgassen meiden und nach einer langen Linkskehre halte ich mich rechts. Ich unterquere die Autobahn A3, fahre am nächsten Kreisverkehr links, und schon befinde ich mich mitten in Rösrath. 

Sülztalplatz in Rösrath
Nachdem ich die Ampel überquert habe, fängt eine alte Frau eine Diskussion an, als ich auf dem Sülztalplatz die moderne Skulptur „Familie“ von Ingrid von Bickenbach fotografieren möchte.  Der Sülztalplatz stößt mich mit seiner bauklotzartigen und phantasielosen Gestaltung ab, die Skulptur reduziert sich auf nackte und schemenhaften Formen, die menschlichen Körper einer Familie sind wie amputiert. Damit könne sie nichts anfangen, giftet die alte Dame. Dass für so etwas Geld ausgegeben würde, verstehe sie nicht. Die Verantwortlichen sollten besser die losen und hochstehenden Gehwegplatten neben der Skulptur wieder richtig verlegen, denn man drohe darüber zu stolpern. Insgeheim gebe ich der alten Dame Recht.

Doch die Geschichte der Skulptur ist anders. Hierzulande verbreiten sich Brunnen und Skulpturen rasend schnell, weil an öffentlichen Plätzen und Gebäuden bestimmte Anteile von Kunst gleichzeitig mit finanziert werden, wenn diese gebaut werden. Kunst am Bau nennt man so etwas. Wenn die Kunst alt wird und Witterungseinflüssen ausgesetzt ist, gammelt sie vor sich her. 1993 wurde die Skulptur von Ingrid von Bickenbach aufgestellt, wobei die Kreissparkasse den größten Teil bezahlte. Mit der Zeit verfärbte sich die Skulptur in einem schäbbigen Grauton, außerdem riss sie an einigen Stellen auf. Die Stadt Rösrath hatte es stets abgelehnt, die Skulptur wieder sauber herauszuputzen, da das Geld dazu fehlte. Zuletzt wurden die Finanzen der Stadt sogar über einen Nothaushalt abgewickelt, so dass die Beamten der Stadt Rösrath sich jeden Bleistift oder jeden Radiergummi vom Kölner Regierungspräsidenten genehmigen lassen mussten. Da die Rösrather diesen armseligen Zustand nicht mehr ertragen konnten, bildeten sie eine Bürgerinitiative. Daraus ging eine Bürgerstiftung hervor, die die Sanierung finanzierte. Bezogen auf andere Instandsetzungsmaßnahmen, war die Geldsumme von 5.000 € ein „Kleckerbetrag“. 4.000 € spendierte schließlich die Bürgerstiftung, 1.000 € taten die Stadt und die Stadtwerke dazu. Ich staune immer wieder, wie das Wirtschaftlichkeitsprinzip bei öffentlichen Ausgaben auf den Kopf gestellt wird. Großprojekte, die Unsummen von Geld verschlingen, werden auf den Weg gebracht, wobei die Kosten ständig aus dem Ruder laufen. An Klein- und Kleinstmaßnahmen muss eisern gespart werden, koste es , was es wolle. Die Gesellschaft schaut derweil desinteressiert auf Kunst und Kultur, dessen Wesenskern entleert ist, weil sie nur noch auf abstrakte Formen reduziert ist.

evangelische Kirche in Hoffnungsthal
Ich folge der Hauptstraße, die hier in Rösrath auch tatsächlich so heißt. Bald begleiten Bahnschienen die Hauptstraße, der Bahnhof ist ein hohes, in graue Fassadenelemente eingepacktes Gebäude. In Hoffnungsthal, dem nächsten Ort, befinde ich mich auf den Spuren der Reformation im Rheinland. Während die Reformation im Erzbistum Köln sich nie hat richtig ausbreiten können, war dies im Herzogtum Berg, zu dem Rösrath gehörte, ein wenig anders. So förderte Herzog Wilhelm IV. von Berg, der 1592 starb, nicht direkt die Ausbreitung des Protestantismus, aber er duldete die neue Glaubensrichtung und betrachtete diese als gleichrangig zur katholischen Lehre.

So kam es, dass in Hoffnungsthal, das zu dieser Zeit noch Volberg hieß, ab 1560 ein protestantischer Pfarrer die Messe las. Danach blieb die Hoffnungsthaler Kirche bis heute evangelisch. Die Hoffnungsthaler Katholiken besuchten indes die Gottesdienste in Rösrath. Der Wechsel auf die andere Konfession geschah übrigens lautlos – ohne Bilderstürmer, Unruhen oder Kämpfen zwischen den Glaubensgruppen. Hoffnungsthal war eine Insellösung, genauso wie die Pfarreien in Wahlscheid, Honrath oder Seelscheid, wo einzelne Gemeinden evangelisch waren, nicht unweit vom erz-katholischen Köln.

Wieso Volberg in Hoffnungsthal umbenannt wurde, erfahre ich am Rande. Die Straße schwenkt nach rechts, dann nach links, dann biege ich rechts nach Durbusch ab. Vor dem Bahnübergang biegt die Bleifelder Straße nach links ab, ich folge aber geradeaus der Hofferhofer Straße. Wie die Straßenbezeichnung „Bleifeld“ verrät, lagen in der Nähe einst Bergwerke, deren Förderung von Erzen längst eingestellt wurde. 1773 wurde eine Fabrik gebaut, die Schmiedeeisen und Bleche herstellte. Das war der sogenannte „Hoffnungsthaler Hammer“, der der Ansiedlung seinen neuen Namen gab.

Kartoffeln auf dem Bauernhof zu kaufen
Nun geht es mächtig bergauf, so dass ich zeitweise in die kleinsten Gänge herunterschalten muss. Anfangs wirft der Wald Schatten. Hinter einem Bauernhof, der sogar in einer Kornbrennerei Hochprozentigen destilliert, öffnen sich Wiesen, an denen die Steigung nicht nachläßt. Bald kann ich auf das wellenartige Gelände des bergischen Landes schauen, wie Täler und Berge abwechseln. In die Ferne kann ich bis zum Siebengebirge schauen, im Rücken bis nach Köln, wo sich der Dom in der morgendlichen Hitze nur in Umrissen heraus schält. Ich folge dem Höhenzug, biege links ab nach Heiligenhaus. Unstet, krümmt sich die Straße einige Mal rauf und runter.

Im nächsten Ort, Heiligenhaus, stoße ich auf die Brüderstraße. Ein Kreisverkehr entzerrt die Kreuzung mit der vielbefahreren B55. Die einstige Brüderstraße verläuft auf dem Abschnitt von Heiligenhaus nach Overath. Wenn man in das Mittelalter zurückschaut, waren die Transportwege auf dem Land denen auf dem Wasser weit unterlegen. Südlich von Köln wurden die Waren auf dem Rhein entladen und ins Siegerland transportiert. Umgekehrt wurden Metalle und Eisen von Siegen nach Köln transportiert, da dort Eisenerze abgebaut wurden und in Hütten verarbeitet wurden. 1472 wird erstmals ein „Bruder-Wege“ als Flurbezeichnung in einer Rechnung der Stadt Siegen erwähnt, 1575 ist auf einer Mercator-Karte eine „alde Broederstraiß“ eingezeichnet.

Wie die Ortsbezeichnung „Heiligenhaus“ entstand, ist ganz einfach. Da es in Köln die Gebeine der Heiligen Drei Könige und jede Masse Reliquien zu bestaunen gab, pilgerten die Gläubigen in Scharen nach Köln und bauten auf der Wegstrecke ein Heiligenhäuschen. Das war die Rochuskapelle, die dem Pest-Heiligen Rochus geweiht war.

Am Kreisverkehr biege ich nach rechts auf die B55 ab. Die 7% Gefälle, die mich als Radfahrer erfreuen, stellte die Fuhrleute in vergangenen Jashrhunderten vor ungeahnte Herausforderungen. Das Gewicht der Ladung drohte entweder den Berg hinunter zu rollen oder in umgekehrter Richtung schafften die Pferde es erst gar nicht den Berg hinauf.  Zwischen sogenannten Vorspannstationen wurden weitere Pferde vor den Karren gespannt, bergauf und bergab pendelten sie hin und her. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde er größte Teil der Lasten nicht einmal von Pferden oder Eseln gezogen, sondern von Menschenhand. Regelrechte Pulks von zweirädrigen Karren müssen durch die Landschaft gezogen sein, um beispielsweise die Hammerwerke und Hütten im Siegerland mit Kohlen zu versorgen. Der Zustand der Wege muss katastrophal gewesen sein. In einigen Abschnitten führte die Brüderstraße über Lehmböden, die von Ton durchsetzt waren, so dass Regenwasser schlecht versickern konnte. Fuhrwerke drohten im Schlamm stecken zu bleiben, obschon die Straße mit Schotter befestigt wurde und ein zulässiges Höchstgewicht nicht überschritten werden durfte. Bereits 1554 merkte die Jülich-Bergische Polizeiordnung an: … „ dass viele Wege zugemacht, ingezogen, gequält, vertränckt und sonst bösverderblich geworden, dass in- und auswendigen daher zu fahren, zu reiten oder zu wandeln hoch beschwerlich ist … „ Noch 1925 beklagte ein Reisender: „So schleppte sich der Landverkehr in den rohesten Formen und unter den größten Hemmnissen ohne wesentliche Verbesserungen in die Neuzeit hinein … „ Da verwundert es nicht, dass die Tagesleistung – selbst mit Pferdefuhrwerken – kaum mehr als 25 Kilometer betragen hat.

Mit 7% Gefälle erreiche ich Overath. Der Autoverkehr hat des öfteren ein Ziel: die Autobahnauffahrt A4 einige Kilometer hinter der Stadtgrenze. 1830 ersetzte die Preußische Staatsstraße, die dem Aggertal folgte, die Brüderstraße. Der Ortskern wuchs zunächst um die romanische Kirche St. Walburga, dann entwickelte er sich entlang der Preußischen Staatsstraße, so dass ein richtiger Ortskern nicht erkennbar ist.


Overath; oben links: 7% Gefälle
oben rechts: Mobilfunk-Basisstation an der Kirche St. Walburga
unten: Ortseingang Overath
Somit führt der Weg in Overath ein Stück in die Moderne hinein. Ungewöhnliche Wege, ungewöhnliche Ideen. 1064 schenkte der Kölner Erzbischof die Kirche St. Walburga der Siegburger Abtei. 1275 umgebaut, erhielt die romanische Kirche in großen Teilen ihr heutiges Aussehen. 1953 kam der radikale Schnitt, als das nördliche Seitenschiff, da die Kirche zu klein, abgerissen wurde und durch einen modernen Neubau ersetzt wurde. Der 1960er-Jahre Stil wirkt wie ein Stilbruch, da er alte und neue Elemente zu sehr vermischt. Und radikal gingen die Overather nochmals in den 1990er-Jahren mit ihrer Kirche um. Neben Fabrikschornsteinen oder Bürotürmen suchten die Mobilfunknetzbetreiber Standorte für ihre Antennen. In St. Walburga wurden sie fündig: sorgsam versteckten die Ingenieure die Basisstation der Mobilfunktechnik in einer hölzernen Kiste, den Mast wohlbehalten im Kirchturm. So sorgt die Kirche dafür, dass wir alle in Overath mit unseren Handys nicht in einem Funkloch landen.

Ich biege ab zum Bahnhof, der auch mitverantwortlich dafür war, dass die Bedeutung der Brüderstraße nachließ. 1884 wurde Overath an das Eisenbahnnetz, die Aggertalbahn, angeschlossen. Die Eisenbahn war dem Transport auf Wegen und Straßen weit überlegen.

Dahinter erscheint mir Overath als ein Konglomerat von Brücken und Straßen. Zunächst bewege ich mich unter die Bahnlinie, dann über die Agger. Als der Güterverkehr über die Brüderstraße noch pulsierte, war die Problematik nicht anders als heute auf den Autobahnbrücken, was den Schwerlastverkehr betrifft. Damals waren es die ganzen Pferdefuhrwerke und auch Soldaten, deren Durchmärsche zu Kriegszeiten die Holzkonstruktion verschlissen. So beschwerten sich die Bewohner 1707 beim Kurfürsten Jan Wellem, dass die Brücke ruiniert sei und dringend instand gesetzt werden müsse. Daraufhin schloß die Verwaltung des Kirchspiels Overath mit einem Zimmermann einen Vertrag, dass er die Brücke neu bauen sollte. Der Neubau sollte durch einen Brückenzoll finanziert werden. 1805 war schließlich der Brückenneubau fast fertiggestellt, da schlug das Hochwasser auf der Agger zu, indem die Fluten die Brücke regelrecht wegrissen. Danach hatten die Overather nur noch Pech mit ihren Brücken. 1879/80 zerstörte Eisgang die Brücke, 1890 war es wieder Hochwasser. Selbst eine Gewölbebrücke aus Grauwacke, die danach gebaut wurde, hielt nicht stand. 1940 waren die Naturgewalten des Hochwassers so stark, dass sie die Brückenpfeiler unterspülten. Die Overather waren sozusagen ständig mit dem Zurechtflicken ihrer Brücke beschäftigt. Das änderte sich erst in der Nachkriegszeit.

St. Cyriax

Ich schaue das Tal der Agger hinab, die bei frühsommerlich heißen Temperaturen friedlich dahin fließt. danach geht es in einen Kreisverkehr, dem ein mächtiger Aufstieg folgt. Hangabwärts schaue ich auf St. Cyriax, das ist ein Ortsteil von Overath. Wie die Ortsbezeichnung andeutet, ist Anwesen nach einem Heiligen benannt worden. 1256 erscheint ein Hofgut in den Besitzverzeichnissen der Siegburger Abtei, die dieses als Tochterkloster gegründet hatten. Darin befand sich eine Kapelle, die dem Heiligen Cyriakus geweiht war. Wie so viele andere Heilige, wurde er zur Blütezeit des römischen Reiches als Christ verfolgt. Er musste Zwangsarbeit leisten, wurde gefoltert, mit Pech übergossen und im Jahr 303 in Rom enthauptet. Sonderlich viel ist allerdings von der Klosteranlage nicht übrig geblieben. 1624 wurde es im Jülich-Klevischen Erbfolgekrieg zerstört, danach wieder aufgebaut, doch unter der französischen Herrschaft wurde es bis 1813 nicht mehr genutzt, danach verfiel es.

Gequält von der Geschichte des Heiligen, quäle ich mich die Höhen des Bergischen Landes hinauf. Der Anstieg ist hartnäckig und hört erst auf 240 Höhenmetern auf. Als ich auf die Querstraße nach rechts einbiege, kann ich linkerhand auf der Höhe die Doppeltürme der Wallfahrtskirche von Marialinden erkennen. Ich verzichte auf einen Abstecher, da die Doppeltürme sich in Staubschutzwände einhüllen, so dass sie kein sonderliches Fotomotiv abgeben. Genau dort, in Marialinden, verließ die Brüderstraße das Aggertal und setzte ihren Weg über Drabenderhöhe nach Siegen fort.

Ich halte mich in Richtung Lohmar, die Aussicht wechselt ständig, das Gelände pendelt auf und ab, am Wegesrand glänzt so manch schöner Fachwerkbau. Radfahrerseele, was willst du mehr ? Bei Kreuznaaf schlängelt sich die Straße steil ins Tal der Agger hinab. Ich biege nach links, wo ein schöner und breiter Radweg die B484 begleitet. Mit der B484 fahre ich immer geradeaus, ich passiere Donrath. An der Kreuzung vor der Autobahnauffahrt muss ich mich schräg links geradeaus halten, um nach Lohmar hinein zu gelangen.

Bahntrassenradweg Lohmar
Müsste ich einen Preis für die unansehnlichste Stadt an der Peripherie von Köln und Bonn vergeben, wäre Lohmar ein Top-Kandidat. Der ursprüngliche Siedlungskern, die romanische Kirche und die Burg, liegt weitab von der Durchgangsstraße. Dort gibt es folglich nichts, was eine ältere Bausubstanz besitzt. So dominieren auf der Hauptstraße Geschäfte, vor denen Autos parken, durchmischt mit Bausünden der 1960er-Jahre-Architektur. Das Rathaus hat man in eine funktionierende Hülle aus Blech und Glas hinein gesteckt, bei der Raiffeisenbank überwiegt der Beton. Und dann kann ich es kaum begreifen: in einem Anflug von blindem Aktionismus hat man versucht, in dieser Stadt ohne jegliche Substanz einen neuen Wesenskern zu verschaffen. Einbahnstraßen fließen um diesen Wesenskern herum, ich muss nach rechts abbiegen. Ein Stückchen Fußgängerzone ist dort entstanden, Einzelhandelsgeschäfte, ein Drogeriemarkt, Außengastronomie, künstlich, neu, platt, ideenlos, umgeben von Eigentumswohnungen in drei- bis viergeschossigen Bauten, die wie eine Kopie aneinander geklatscht sind.

Den Fahrradsymbolen nach Siegburg folgend, biege ich auf die B484 zurück. Dort bin ich auf der Strecke zurückgelangt, die ich bereits auf dem Hinweg gefahren bin. Bald erreiche ich den Bahntrassenradweg von Lohmar nach Siegburg, der mich in die Herrlichkeit ungestörten Fahrradfahrens zurück befördert. 

Strecke (74 Kilometer):


Höhenprofil:

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Dienstag, 10. Juni 2014

mit dem Rennrad nach Sinzig

Frühbeettunnel bei Arzdorf
Der Nordostwind war tückisch. Luft aus den Polarbreiten hatte der Nordostwind angezapft, die Nacht war sternenklar, die Temperaturen waren bis auf minus zwei Grad abgestürzt. In den Morgenstunden des 4. Mai 2011 entwickelte sich eine schicksalshafte Kombination für die Apfelbauern: der Wind blies. In Mulden und Senken hatte sich der Forst zwischen Kottenforst und Eifel gesammelt. Als der Wind blies, sackte die Temperatur nochmals ab und unterschritt die Minusmarke von zwei Grad. Das war zuviel. In den Wochen danach wurden die zarten, schon kugelrunden Apfelfrüchte weich wie Gummi, sie färbten sich braun und fielen zu Boden. Die Apfelernte fiel im Jahr 2011 komplett aus. Für 600 Hektar Fläche zwischen Rheinbach, Meckenheim und Graftschaft, war dies der Ruin.

Über Bad Godesberg, Wachtberg-Pech und Villip verlasse ich Bonn. Hinter dem Schloß Gudenau steigt die Straße an, dann rollt das gerade Band der Straße den Berg hinunter , Halbkreise von Foliengewächshäusern formieren sich, das Gelände senkt sich und steigt wieder an. Zwischen Arzdorf und Fritzdorf erstreckt sich eine dieser Mulden, wo die Eisheiligen zuschlagen können: Reihen von Apfelbäumen bestimmen das Landschaftsbild, und die zarten Früchte können dem  Frost hilflos ausgeliefert sein. Die Obstbauern wehren sich, indem sie die Apfelbäume beregnen, denn eingepackt in einem Eispanzer können die zarten Triebe bis zu minus zwei Grad aushalten. Und dabei ist es nicht nur der Frost, sondern es sind auch Hagel, Trockenheit oder Schädlinge, die ganze Ernten vernichten können.

Windmühlenstraße bei Fritzdorf
Am Ende des Ortes, wenn die Hauptstraße in Fritzdorf nach rechts abknickt, halte ich mich links. Ab hier folge ich der Fahrradbeschilderung nach Bad Neuenahr. Auf dem Wirtschaftsweg stört mich keinerlei Autoverkehr, sacht steigt der Weg an, zuerst dehnen sich Apfelbäume die Höhe hinauf, dann pflanzt sich ein Obsthof in die Kulturen aus Apfelbäumen, Himbeersträuchern und Birnbäumen hinein. Die Ruhe, die ich einatme, ist traumhaft. Der Anstieg gewinnt an Strenge, bis oben auf der Höhe, auf freier Fläche und ohne Flügel, eine Windmühle steht.

1842 erbaut, ist die Windmühle zwar steinalt, aber ihre Bedeutung verblaßt zwanzig Meter weiter, wo die AFH den Wirtschaftsweg kreuzt. AFH, das steht für Aachen-Frankfurter-Heerstraße, oder auch Krönungsstraße, die eine der wichtigsten Verkehrsverbindungen im Mittelalter darstellte. Heere und Könige folgten der Straße, Pferdefuhrwerke transportierten Waren, Pilger brachte die Straße zu den Orten religiöser Verehrung: die Verkehrsverbindung begann in Remagen, wo die Schiffsverbindung in eine Landverbindung überging, sie folgte ein Stück dem Ahrtal, stieg das Ahrgebirge hoch und flachte in der Grafschaft ab.

Hier genau, auf 259 Metern Höhe, waren die Könige des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation geritten. Der erste deutsche König, Heinrich III, wurde Jahr 1028 gewählt. Die Wahl wurde formalisiert und 1356 in der Goldenen Bulle festgeschrieben. Streng reglementiert, wurde eine Art von Bundesversammlung gebildet, die entfernt an heutige Wahlen des deutschen Bundespräsidenten erinnert. Die mächtigsten Fürsten, Kurfürsten und Herzöge wurden ausgewählt, sie gaben ihre Stimme ab und der Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereinigte, wurde zum deutschen König gewählt. Das geschah in Frankfurt. Krone, Zepter und Schwert wurden in der Nachfolgetradition von Karl dem Großen in der Kaiserpfalz in Aachen verliehen. Auf mehr schlecht als recht befestigten Wegen ritten die Könige in die Niederrheinische Bucht hinein zum Ziel ihrer Wünsche. Das war Aachen.

die Ahr bei Bad Neuenahr
Für mein Rennrad sind die 259 Höhenmeter einigermaßen schlapp, und so radele ich den Berg hinab, immer geradeaus. In Ringen  fädele ich mich ein auf die Bundesstraße 266, die mich, Schleifen und Kurven ziehend, ins Tal hinab nach Bad Neuenahr führt. Am Kreisverkehr, wo die Autobahn A573 endet, halte ich mich geradeaus an die Beschilderung nach Königsfeld. Netto, Brenner & Klaudt, Energieversorgung Mittelrhein: austauschbar und blaß ist das Gewerbegebiet, weit vorbei am Stadtkern von Bad Neuenahr.

An der nächsten Ampel fahre ich geradeaus, ich überquere die Ahr, die Kuranlagen lasse ich links liegen, und nach einem Kilometer setzt ein giftiger Anstieg an, der mich zum Herunterschalten in die kleinsten Gänge zwingt. Ich verlasse Bad Neuenahr, indem sich Kurven den Berg hoch schlängeln. Dann flacht der Anstieg auf ein erträgliches Niveau ab. Aber ich muss hinauf, bis auf 374 Höhenmeter, und das zieht sich in die Länge. Treten und Geduld muss ich aufbringen, insgesamt geht es, von der Ahr ausgehend, acht Kilometer den Berg hoch. Nach dem Hinweisschild zur „Wetterstation Bad Neuenahr“ läßt schließlich der Anstieg nach, eine langgestreckte Kurve biegt nach links, dann nimmt die Anstrengung ein Ende, denn es geht nur noch den Berg hinunter.

Als das Waldgebiet ins freie Feld übergeht, schaue ich gebannt in die Weiten der Eifel. Eine Schafherde auf grünen Wiesen im Vordergrund, fällt die Straße ab nach Königsfeld, wo sich die Fahrt durch den kleinen und geschlossenen Ortskern lohnt. Königsfeld ist älter als es der barocke Turm der Kirche St. Nikolaus vermuten läßt, denn bereits 992 taucht „Cuningesueld“ in einer Urkunde des sächsischen Kaisers Otto III. auf. Fürsten und Herzöge wollten ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, nämlich der Jagd. Dazu verlieh ihnen Kaiser Otto III. höchst persönlich das Jagdrecht. Der barocke Kirchturm verwirrt ein zweites Mal, denn die ursprünglich romanische Kirche wurde 1912 vollständig verbaut, das Seitenschiff wurde abgerissen und durch einen größeren, neugotischen Bau ersetzt, während der Eingangsbereich und das rechte Seitenschiff noch aus dem Entstehungsjahr 1226 stammt.

Königsfeld
Durch Königsfeld fließt der Vinxt-Bach, und daran scheiden sich die Geister des Rheinlandes. Wir brauchen Definitionen, Festlegungen, Begriffsbestimmungen, Abgrenzungen, um die Dinge wissenschaftlich beleuchten zu können. Wie anderswo in Deutschland, pflegt der Rheinländer seine Mundart, oder auch Dialekt, „Öcher Platt“ in Aachen, „Kölsch“ in Köln oder „Bönnsch“ in Bonn: alle Dialekte verbindet der rheinische Singsang, als schwingende Melodie, die als Sinnbild einer heiteren Lebensart verstanden werden kann. Wenn man als Abgrenzungskriterium die sprachliche Dimension wählt, dann endet hier in Königsfeld hinter dem Vinxt-Bach der ripuarische Sprachraum des Rheinlandes. Und in die Weiten der Vulkaneifel hinein, die Mosel entlang, hinauf bis zur Saar und nach Luxemburg erstreckt sich der moselfränkische Sprachraum. Melodisch daher fließend, klingt der moselfränkische Dialekt genauso gemütlich. Wenn ich sie denn höre, nehme ich sprachliche Änderungen wohlwollend auf. Manche Laute dehnen sich, aus „Esel“ wird „Iasel“, aus „Abend“ wird „Oawend“. Silben werden verschluckt: „p“ bleibt für „pf“ stehen, „Apel“ anstelle „Apfel“. Eigene Wortschöpfungen mogeln sich in die Sprache hinein: „Kwätsche“ für „Pflaumen“ oder „Däämelsack“ für einen „Tolpatsch“, so spricht man anderenorts im moselfränkischen Sprachraum. Hier in Königsfeld ist davon noch nichts zu hören, aber jenseits des Vinxt-Baches werden diese sprachlichen Nuancen deutlicher.

Unten angekommen, biege ich an der Hauptstraße nach links. Fünfzig Meter weiter, geht es nochmals nach links. Dort registriere ich, dass mein Ziel, Sinzig, in zehn Kilometern Entfernung näher rückt. Mit einem kräftigen Anstieg verlasse ich die ripuarisch-moselfränkische Sprachgrenze des Vinxt-Baches. Ich quäle mich an der Maternus-Kapelle vorbei, wo einst der Bischof von Köln, Maternus, auf dem Weg zu seinem anderen Bistum, Trier, übernachtet haben soll. Einen Kilometer weiter, erreiche ich die Höhe, und von hier aus geht es nur noch bergab bis Sinzig.

Schloß Ahrenthal
Auf halber Strecke erblicke ich das Schloß Ahrenthal. 1330 erbaut, wurde der Komplex 1728 so umgebaut, wie ich das Vorgebäude nun von der Straße aus bestaunen kann. In Schloß Ahrenthal kämpften die Ritter, aber nicht gegen den großen Feind von anderswo, sondern gegeneinander. So beanspruchten zehn unterschiedliche Rittergeschlechter die Herrschaft in Sinzig, so viele Ritter zählt das Sinziger Grundbuch aus dem Jahr 1334 auf. Die Ritter bauten in der Stadt Sinzig, in umliegenden Flußtälern und auch hier im Harbachtal Burgen. Im 14. Jahrhundert ging es darum, wer in Sinzig das Sagen hatte. Herr über Schloß Ahrenthal wurde Ritter Rollmann von Sinzig, dem der Kölner Erzbischof am 25.6.1364 den Titel „Rollmannus dominus de Arendale“ verlieh. Rollmann hatte eine gewisse Macht, da er weitere Güter in Andernach, Unkelbach, Königsfeld, Frohnrath und auch Sinzig geerbt hatte. Jeder Ritter suchte sich zu positionieren. Genau zu Weihnachten 1380 kam der Eklat. Der Kölner Erzbischof hatte auf der Godesburg zu einem Weihnachtsessen, gemeinsam mit anderen Rittern und Adligen, eingeladen. Ritter- und Adelsgeschlechter waren sich so spinnefeind, dass der Ritter Rollmann von Sinzig und der Burggraf Johann von Rheineck sich nicht mehr ins Gesicht schauen konnten. Sie diskutierten, die beiden wurden lauter, sie schrien sich an, beide wurden handgreiflich. Schließlich zückte Burggraf Johann von Rheineck seinen Dolch und erstach Rollmann von Sinzig. Und dies in Anwesenheit des Erzbischofs, der nicht anders konnte als den Burggrafen am nächsten Tage hinrichten zu lassen. Schloß Ahrental teilte das Schicksal so manch anderer Wasserburg im Rheinland. Nach dem 30-jährigen Krieg nahm die strategische Bedeutung der Wasserburgen ab. Nach 1700 wurde die Wasserburg von Fürsten aus der Ferne gelenkt, mal waren es die Grafen Spee aus Düsseldorf, mal der Graf von Hillesheim, der seine Besitztümer von Mannheim aus steuerte.

Abfahrt nach Sinzig
Sinzig naht, nachdem die Eifel-Landschaft während dieser sagenhaft langen Abfahrt an mir vorbei geglitten ist. So wie Karl der Große in Aachen, wie Jan Wellem in Düsseldorf, wie Beethoven  in Bonn, so dreht sich in Sinzig alles um eine Person. An der Querstraße, vor den Überbleibseln der Stadtmauer, halte ich mich links, an der nächsten Abbiegung fahre ich rechts in die Fußgängerzone hinein. Immer geradeaus, bis ich den großen Platz vor der Kirche St. Peter erreiche, die mit ihrem makellosen rot-weißen Anstrich beeindruckt. Wenn ich Lust hätte, könnte ich anhand von Lisenen, Rundbögen, Zwerggalerien und des achteckigen Vierungsturms die Vollendung romanischer Baukunst studieren. Doch nach 45 geschafften Kilometern mache ich Pause. Ich genieße die Weite des Platzes, der sich so ausdehnt, wie ich es ansonsten im Rheinland selten kenne.

Und mit dem Namen des Cafés begegne ich dieser einen Person, auf die sich das ganze Stadtleben konzentriert: ich sitze draußen vor dem Barbarossa-Café. Neben Gelnhausen, Kaiserslautern, Altenburg und Bad Frankenhausen nennt sich Sinzig stolz Barbarossa-Stadt. Das hängt wiederum mit der AFH,  beziehungsweise der Aachen-Frankfurter-Heerstraße beziehungsweise der Krönungsstraße zusammen, die ich zuvor auf 259 Metern Höhe bei Fritzdorf gekreuzt habe. Wie bereits beschrieben, wurden die deutschen Könige des Mittelalters in Frankfurt gewählt. Danach fuhren sie mit dem Schiff rheinabwärts, gingen in Remagen an Land und sattelten auf ihre Pferde um. Sie ritten in Tagesetappen, wobei sie sich in Pfalzen aufhielten und übernachteten, deren Infrastruktur die Herrschergeschlechte Karls des Großen aufgebaut hatten. So wird Sinzig als „palatium Sintiacum“ im Jahr 762 in einer Urkunde erwähnt, laut der Karl der Große Eigentumsrechte an dieser Pfalz erhielt. Rund vier Jahrhunderte später hielt sich Barbarossa, der staufische Kaiser, der unter merkwürdigen Umständen 1190 während eines Kreuzzugs ertrank, viermal nachweislich in Sinzig auf. Das erste Mal 1152: „in villa regali Sinziche applicuit“; später, das ist 1158, 1174 und 1880, erscheint Sinzig als Aufenthaltsort in weiteren Urkunden. Obschon es nur kurze Stippvisiten waren, ist Sinzig eng mit Barbarossa verbunden. Das ist nicht nur das Barbarossa-Café, in dem das Weizenbier meinen Durst löscht, das sind auch Barbarossa-Pralinen, Rotweine „Edition Barbarossa“, eine Barbarossa-Apotheke, ein Barbarossa-Sonnenstudio und so weiter. Achja: einmal jährlich lebt die Zeit des Mittelalters auf dem Barbarossa-Markt wieder auf.

Meine Fahrt geht weiter. Über die Zehnthofstraße verlasse ich den Marktplatz, ich biege nach links auf die Rheinstraße, dann links in Richtung Remagen auf die Lindenstraße. Auf der Höhe des Bahnhofs muss ich aufpassen, denn die Sinziger Verkehrsplaner haben nur an die Autofahrer gedacht, denn alle Verkehrsschilder nach Remagen führen über die Kraftfahrstraße, die ich ja als Fahrradfahrer nicht benutzen darf. Anstatt dessen biege ich nach links auf die Barbarossastraße, wo mich der Kaiser nach fünfhundert Metern linkerhand auf seinem Denkmal begrüßt. Seit 1951 steht er dort, er schaut gebannt, der Sockel hievt ihn mit seinem langen Gewand in die Höhe.

Sinzig, Marktplatz (oben), Barbarossa-Denkmal (unten links; Quelle Wikipedia),
Gemälde "Kaiser Barbarossa erteilt dem Bischof von Trier ein Bergwerksprivileg" von Karl Christian Andreae (1864)
(unten rechts; Quelle: Agnes Menacher, das Sinziger Schloß)

Das Sinziger Schloß, auf der rechten Straßenseite, wo sein Denkmal sich bis 1951 im Park versteckte, verkneife ich mir. Es ist fast genauso alt wie Schloß Ahrenthal, französische Truppen haben es im 17. Jahrhundert bis auf die Grundmauern zerstört. 1850 kaufte der Kölner Kaufmann Gustav Otto Bunge das verfallene Anwesen, er hatte die Taschen voller Geld und baute das Schloß als Sommerresidenz für seine Familie wieder auf. Über seine Ehefrau entdeckte er seine Faszination für die Malerei. Sein Schwager, Karl Christian Andreae, hatte fünf Jahre an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert. Vierundzwanzig Jahre lang malte er in Dresden Altarbilder, bis es ihn 1882 nach Sinzig verschlug. Abseits der Rheinromantik, die sich von der Schönheit des Stroms und rheinischen Burgen umschwärmen ließ, war Andreae der historischen Malerei verhaftet. Dabei betrachtete der Kaufmann Bunge, der keinerlei Talent zur Malerei besaß, das Sinziger Schloß als informellen Treffpunkt, um ein Netzwerk von Künstlern zu bilden. Die Maler Leopold von Kalkreuth, Erich Meurer, Franz Ittenbach oder Johann Martin Niederée wird wahrscheinlich niemand kennen. Das Museum im Sinziger Schloß habe ich nicht besucht, aber die Gemälde, die dort zu sehen sind, interessieren mich brennend.

Da die Sinziger Verkehrsplaner Fahrradfahrer vergessen haben, muss ich aufpassen. Oder vielmehr: der Fahrradfahrer wird jede Masse Hinweisschilder zur Ahr finden, wo der Radweg von Bad Neuenahr nach Kripp an den Rhein führt, aber die geradlinige Verbindung nach Remagen haben die Stadtplaner schlichtweg geschlabbert. Daher habe ich die Straßenbezeichnungen „Barbarossastraße“ und „Kölner Straße“ auf einen Zettel skizziert. Ich folge sklavisch, um nicht in Kripp oder auf der Kraftfahrstraße zu landen.

Mit seiner krummgebogenen Straßenführung, schleicht sich die Kölner Straße durch ein Industriegebiet, das sich an der Kraftfahrstraße, der Bahnlinie und der B266 vorbei mogelt. Wenn ich nach rechts schaue, hätte der Blick über Felder und Fabrikgebäude auch anders aussehen können. In der 1960er und 1970er Jahren herrschte Aufbruchstimmung, was den Ausbau der sauberen und kostengünstigen Kernenergie betraf. Im Rheinland wurden Standorte für Kernkraftwerke gesucht. Diese mussten in der Nähe von Flüssen liegen, da große Mengen an Kühlwasser für die Reaktortechnik gebraucht wurden. 1972 war es soweit: die Planungen für ein Atomkraftwerk in Sinzig waren fertiggestellt. Die grüne Bewegung hatte Anfang der 1970er Jahre noch nicht richtig Fuß gefaßt, es gab keine Erfahrungen mit Atomkraftwerken, Gefahren wurden schön geredet. 16.000 Bürger legten im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens Einspruch ein. Schließlich waren es nicht die Bürger, sondern die Mineralwasserproduzenten, die die Planungen kippten. Die Produzenten Sinziger, Heppinger und Apollinaris sahen Beeinträchtigungen auf den Wasserhaushalt, so dass die Qualität ihrer Mineralwasser darunter leiden würde. Dies bestätigten die Gerichte, dass das Wasserrecht höher einzuschätzen sei als die Stromversorgung. Nachdem die Planungen gestoppt wurden, wurde ein neuer Standort in Mülheim-Kärlich bei Koblenz ausgewählt. 1986 fertig gebaut, produzierte dieses Atomkraftwerk gerade 100 Tage Strom, weil Kernkraftgegner Endloswellen von Gerichtsprozessen lostraten.

Der Fahrradbeschilderung folgend, lande ich auf der B9 in Remagen. Mit dem breiten Band der Straße lasse ich den Bahnhof rechts liegen, hinter dem Ortsausgangsschild biege ich rechts an der Kirche St. Peter und Paul vorbei, hinunter zum Rhein, dann biege ich links auf den Fahrradweg, der schnurstracks den Rhein entlang führt.



Radweg den Rhein entlang von Koblenz nach Bonn
Das ist wie im Paradies, dem breiten Strom folgen, immer geradeaus, auf separater Spur für Fahrradfahrer. Aber Achtung: der Radweg verliert all seine Romantik und Gemütlichkeit, wenn an Wochenenden die Sonne scheint und ganze Völkerscharen auf dem Fahrrad unterwegs sind. Am schlimmsten sind die Rentner, die sich im Pulk im Fußgängertempo vorwärts bewegen, nicht beiseite weichen und mein Klingeln wohlwollend überhören. Für Liebespaare habe ich ein geringes Verständnis, wenn sie sich nebeneinander anhimmeln, sich tief in die Augen schauen und als verschmolzene Einheit nebeneinander nicht auflösbar sind. Inline-Skater können mich genauso zur Verzweiflung bringen, wenn ihre Bewegungen ausgreifen, wenn sie Platz brauchen und wenn Abbremsen effektiv unverzichtbar ist, um mich überholen zu lassen. Familien mit Kind und Kegel sind handhabbar. Kinder gehorchen. Die Familien halten sich rechts, wenn ich komme, so dass ich mich vorsichtig heran tasten kann und vorbei ziehen kann. Bis zum Ziel, dem Alten Zoll, weist mir wie im Schlaf die Fahrradbeschilderung den Weg.

Strecke (Länge 74 km):



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