Montag, 18. August 2014

mit dem Rennrad nach Kempenich

Kuh mit Deutschland-Fahne
„Diesen Moment einfrieren, besser kann es nicht sein“ lief im Radio rauf und runter, von morgens früh bis abends spät, von WDR2 bis SWR3, nachdem unsere Fußball-Nationalmannschaft den Weltmeistertitel geholt hatte. Fußball und Rennradfahren haben eines gemeinsam: die Erlebnisse sind für die Ewigkeit. Momente gehen über in Nachhaltigkeit, und selbst nach mehreren Jahrzehnten sind die Erlebnisse so präsent, als wären sie gestern geschehen. Dieses 1:0 von Mario Götze, als er den Ball mit der Brust annahm, ihn auf seinen linken Fuß abtropfen ließ, ihn mit der Fußspitze in das Tor beförderte, während der argentinische Torhüter ins Leere griff, dieser Moment ist ein Denkmal für alle Ewigkeit. Land, Leute, Städte, Landschaften, das ist die Substanz, aus der die Momente des Rennradfahrens geformt werden. Anstrengung und Leiden gehören dazu, genauso wie Glück und Freude, als Zutaten für eine Ewigkeit.

Das erste Stück führt mich diese Tour über dieselbe Strecke wie nach Sinzig, also Bad Godesberg, Pech, Schloß Gudenau, Arzdorf, Fritzdorf. Auf einem Obsthof, zwischen Reihen von Apfelbäumen, die mehr grün als rot sind, begegne ich der Unsterblichkeit des Fußballs: eine Kuh mit Deutschland-Fahne. Ja, diese Momente möchte ich gerne einfrieren. Wenn ich den vierten Stern auf meine Rennradtouren übertrage, ist jeder Moment einzigartig und nicht wiederholbar. Momente werden aber konserviert in der Erinnerung, und der Weg meiner Touren frischt neue Erlebnisse auf.

Weinberge am Stadtrand von Ahrweiler
Hinter der Fritzdorfer Mühle hinab nach Rengen, dann über die B266 ins Ahrtal. An der Brücke über die Ahr scheiden sich in Bad Neuenahr die Geister. Ich verlasse die Landstraße geradeaus nach Königsfeld und biege nach rechts ab. Ich folge dem Radweg entlang der Ahr bis Ahrweiler, stramm geradeaus, bis mir ein Stadttor von Ahrweiler vor die Nase gesetzt wird. Dort biege ich links ab, auf die Landstraße, wo der separate Radweg im Nichts endet, und ich folge der Beschilderung nach Ramersbach.

Der Anstieg nach Ramersbach ist übel. Kurzzeitig schaffe ich es, auf den fünften oder sechsten Gang in der kleinsten Übersetzung hoch schalten zu können, dann stoße ich in freies Feld hinein, und unvermittelt zieht der Anstieg erneut an. Kein Ende des Anstiegs in Sicht, nur die ersten Häuser von Ramersbach. Im zweit- oder drittkleinsten Gang kraxele ich hoch.

In Ramersbach mache in Bekanntschaft mit einer Kunstform, die sich im Rheinland weniger durchgesetzt hat: dem Jugendstil. Um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert wechselten die Stile in Kunst, Architektur und Design rasch ab. Klassizismus, Historismus, Jugendstil, Expressionismus, Bauhaus, Kubismus, das waren mehr Modeerscheinungen, die sich überlagerten, Gegensätze betonen oder ineinander übergingen. Im Fluß der immer schneller werdenden Zeit hatten um die Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts Künstler, Architekten und Kunsthandwerker genug vom Pomp der Gründerzeit, von schweren Möbeln und wuchtigen Prachtbauten. Stattdessen setzten sie auf luftige Linien, verspielte Schnörkel und fließende, schwingende Bewegung, deren Formen sie aus Blumen und Pflanzen, aus Blattwerk und Wurzeln in der Natur entnahmen.

Im deutschen Sprachraum verbreitete sich der Jugendstil in Wien, Berlin – und auch in Darmstadt. Ins Rheinland schwappte diese Strömung als „art nouveau“ um die Jahrhundertwende aus Frankreich ein.­ Die eleganten Formen fanden Eingang in die Schmuckkunst, in die Plakatmalerei, in die Gestaltung Pariser Metro-Stationen, in die Porzellanmalerei oder in die Gestaltung von Glasfenstern.



St. Barbara in Ramersbach; oben links Vorderfront, Mitte Gesamtbild,
unten Fenster mit Evangelist Matthäus; oben rechts Schild Bikerkneipe
 1738 gebaut, war die Pfarrkirche St. Barbara in Ramersbach sträflich vernächlässigt worden, so dass sie abgerissen werden musste. Die Pfarrei entschied sich für einen Neubau im Jugendstil, der 1908 fertiggestellt wurde. Wie aus einem Guß, umgarnen geschwungene und nicht überladene Formen nunmehr die Fassade, den Baukörper, die Fenster und die Inneneinrichtung, die mir leider vorenthalten bleibt, da die geschlossene Eingangstüre den Zutritt versperrt. Jedenfalls glaube ich am Kirchenfenster mit dem Evangelisten Matthäus dieses Spiel der Formen zu erkennen, die ein Spannungsfeld zwischen natürlicher Bewegung und Strenge ausfüllen.

Der Anstieg läßt nicht nach, und voller Freude registriere ich, dass mich eine Biker-Kneipe willkommen heißt. Auch Jürgen Klopp, der Meistertrainer von BorussiaDortmund, meint es gut mit mir. Der BVB ist zwar nicht mein Lieblings-Verein, aber  Jürgen Klopp lächelt mich an. Hinter einem weißen Fensterrahmen hat sich ein offizieller BVB-Fanclub, die „Ahrtal-Borussen“, eingenistet. Und meine Überzeugung trägt mich vorwärts, dass die BVB-Fans in Ramersbach auch meine Etappe durch die Berglandschaft der Eifel unterstützen.

endlich bergabwärts hinter Ramersbach
Das läßt mich hoffen, und prompt neigt sich das Höhenprofil der Landstraße hinter dem Ortsausgangsschild von Ramersbach abwärts, aber dies nur für ein kurzes Stück. Nachdem ich die Kerbe eines Baches überquert habe, zieht der Anstieg durch dichten Buchen- und Eichenwald wieder an.

Auf 550 Metern Höhe werde ich dann von dem kräftezehrenden Anstieg erlöst, der mit einer kurzen Unterbrechung fünfzehn Kilometer gedauert hat. Endlich. Der Weitblick ins Rheintal hinab ist genial, er entschädigt für die Strapazen des Anstiegs und sachte abwärts kann ich meinen Beinen eine Ruhepause gönnen.  Noch vier Kilometer sind es bis Kempenich, und dorthin verläuft eine scharfe Trennlinie. In der Bronzezeit wurden nördlich dieser Linie die Menschen in Urnen bestattet, südlich davon in Gräbern. Die Römer zogen hier eine Trennlinie zwischen Ober- und Niedergermanien, diese Provinzen wurden von Köln beziehungsweise von Trier aus regiert. Aus der Römerzeit fand man in dieser Gegend Altäre, die Grenzgöttern, den „fines“ geweiht waren. In der fränkischen Zeit bildete sich dieselbe Trennlinie. Nördlich davon siedelten die ripuarischen Franken, südlich davon die Moselfranken. Als das Imperium Karls des Großen zerfiel, wurde hier das Nachfolgereich in Nieder- und Oberlotharingien geteilt. Als das Rheinland im Mittelalter christianisiert war, begann nördlich hiervon das Herrschaftsgebiet der Kölner Erzbischöfe, südlich davon der Trierer Erzbischöfe.

Alte Handelsstraßen führen durch das Kempenicher Ländchen, das wahrscheinlich aus dem lateinischen Wort „campiania“, das heißt Ebene“, abgeleitet ist. Denn die Römer bauten ihre Straßen gerne über markante Höhenzüge, die sie von größerem Bewuchs freihielten, um Räuber und Wegelagerer erkennen zu können. Die römischen Straßenbauer befestigten bereits ihre Straßen mit grobem Steinschlag aus Basalt, der mit Lehm und Wasser verdichtet wurde. Waren wurden aus dem Hafen in Remagen entladen. Über Sinzig und Königsfeld wurden diese quer durch die Eifel gekarrt.

auf 550 Metern Höhe mit Blick ins Rheintal
Einen Kilometer parallel verläuft eine alte Römerstraße. Diese Technik der „wassergebundenen Straßendecke“ hat sich im Raum Königsfeld bis heute erhalten. Als das römische Reich erlosch, erhielt die Handelsstraße eine neue Bedeutung. Die Wälder standen voller kräftiger Buchen, und Köhler machten dieses Holz in ihren Meilern zu Holzkohle. So stößt man entlang der alten Römerstraße auf Waldlichtungen hier und da auf schwarzes Erdreich. In diesem Abschnitt heißt die alte Römerstraße nunmehr „Kohlstraße“. Als im Mittelalter die Überfälle zunahmen, wurde ein „Rabenköpfchen“ aufgestellt. Das war ein Galgen, der zum einen Räuber abschrecken sollte und zum anderen Reisende und Transporteure warnen sollte.

Mit dem Anstieg in den Knochen, habe ich mir längst in meiner Phantasie mehrere Gläser kühles und erfrischendes Bier in meinem Kopf ausgemalt. In Kempenich angekommen, suche ich vergeblich. Der graue Ton der Häuser verstärkt die Trostlosigkeit. Jalousien in Bäckereien sind herunter gelassen, die ungelenken Straßenführungen in dem Haufendorf verwirren mich, der Markt schrumpft zu einem winzigen Flecken zusammen, auf dem Kinder ihre Scooter hin- und herschieben. Ich erspare mir, alle Biegungen der Straßen restlos nach einer Gaststätte zu durchforschen. Von der Burg der Trierer Erzbischöfe, die um 1200 gebaut wurde, ist kaum noch etwas zu sehen, denn 1688 wurde sie von den Truppen des Sonnenkönigs Ludwig XIV. zerstört. Aber die Nutzung ist ungewöhnlich: 1822 wurden die Reste in ein Forsthaus umgebaut, zuletzt wurden Reitställe angebaut, die zu einem Pferdegestüt gehören.

Das hilft nichts. Das ist nicht immer organisierbar, dass ich an einem gemütlichen Flecken ein kühles Bier trinken kann, wenn der Durst am größten ist. Da ich keine Lust habe, auf einer Bank oder im Gras mein Mineralwasser zu trinken, radele ich weiter. Raus aus Kempenich, hinter der Ortsumgehung der B412 rechts nach Engeln. Und nachdem ich abgebogen bin, traue ich kaum meinen Augen. Vor mir biegt und windet sich die Straße auf freiem Feld fleißig die Straße hoch, hinauf zum Engelner Kopf. Ein letztes Stück Energie presse ich aus mir heraus, ich trete und erinnere mich an die alte Radfahrerweisheit: wo es den Berg hinauf geht, geht es auch wieder runter.

Ortsmitte Kempenich
Oben angekommen, lockt mich die Radwegbeschilderung. Ein Wirtschaftsweg biegt links ab von der Hauptstraße, quer durchs Feld, dann an einem Steinbruch vorbei, der markiert ist mit der Vulkanpark-Route. Gesteinsformationen aus Schieferplatten waren mir bereits in den Wäldern hinter Ramersbach aufgefallen. In diesem Bereich der Ost-Eifel gehen die Tourismus-Verantwortlichen nun themenbezogen und systematisch vor. Von Kruft bis Königsfeld, von Andernach bis Engeln, können Interessierte auf mehr als zwanzig solcherVulkanpark-Routen die Welt des Vulkanismus in der Ost-Eifel kennen lernen.

An dieser Stelle schiebt sich der Teerweg mitten durch eine Lavasandgrube hindurch. Während sich auf der rechten Seite die Bagger in das Vulkangestein hineinfressen, klafft auf der linken Seite das Loch einer riesigen Grube. Die Steine sind hier feingemahlen wie Sand: beim Ausbruch der Vulkane vor mehr als zehntausenden von Jahren wurden ungeheure Mengen an Bims und Asche dreißig Kilometer hoch in die Stratosphäre geschleudert, die dann die Landschaft bedeckten. Das können nicht nur große Felsbrocken sein, sondern auch erbsengroße Körner, sogenannte Lapilli, die dann im Straßen- oder Kanalbau verwendet werden, in Vorgärten oder als Streugut. Beim Hineinschauen in die Grube staune ich, wie unzählige helle und dunkle, breite und schmale, klare und undeutliche Schichten übereinander, gegeneinander und plötzlich versetzt zueinander verlaufen. Das Naturschauspiel der Gesteinsformationen ist subtil, fein und schön.

Einen Kilometer weiter fluche ich aber über das Vulkangestein. Der asphaltierte Weg endet und setzt sich als Waldweg fort. Mit meinem Rennrad holpere ich über ein Schotterbett aus groben und feinen Steinen, bergabwärts bin ich kaum schneller als Fußgängertempo, glücklicherweise ohne Panne.

Als ich den Waldrand erreiche, werde ich für diese Unannehmlichkeiten entschädigt. Ich rolle abwärts, runde Strohballen scharen sich auf einem abgeernteten Getreidefeld zusammen. Das ist traumhaft, ich denke an Rapunzel, die jeden Moment ihr Haar herunterlassen könnte. Der Bergfried der Burg Ölbrück schraubt sich mit seinen 34 Metern Höhe nach oben. Sein Beiwerk sind Ruinen, und, typisch für diese Gegend, steht die Burg felsenfest auf einem echten Vulkantrichter. Mich holt die Grenzlage wieder ein. Die Burg gehörte mit kurzen Unterbrechungen den Kölner Erzbischöfen, jenseits in Kempenich begann das Herrschaftsgebiet der Trierer Erzbischöfe. Die Parallelen zwischen Ölbrück und Kempenich sind verblüffend, denn die Jahreszahl der Zerstörung ist fast identisch: 1688 Kempenich und 1689 Ölbrück. Die Franzosen müssen also wie die Vandalen gewütet haben. Um 1700 wurde der Bergfried wieder aufgebaut, doch bis in die Gegenwart bestimmen Wechselfälle das Schicksal der Burg.
Burg Ölbrück

1956 kaufte ein Düsseldorfer Architekt die Burg. Die Burg sollte soviel Profit wie möglich erwirtschaften. 1972 legte er Pläne vor, die Burg zu einer edlen Wohnimmobilie mit Restaurant, Schwimmbad und Tiefgarage umzubauen. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits übernommen, denn alleine die Instandhaltung des Bergfrieds und die Absicherung der inneren und äußeren Burgmauer, was zu den Bedingungen für die Baugenehmigung gehörte, verschlangen Unsummen. Als sich der Düsseldorfer Architekt mit eine Million DM verschuldet hatte, wurde die Burg zwangsversteigert. Dies scheiterte aber, da niemand das Mindestgebot von 1,3 Millionen DM zu zahlen bereit war. Danach verfiel die Burg. Mauern brachen zusammen, Zinnen stürzten ab, die Plattform auf dem Bergfried wurde unbegehbar. Die Rettung kam 1999, als das Land Rheinland-Pfalz Gelder zur Sanierung der Burg zur Verfügung stellte, unterstützt von Spenden aus der Bevölkerung und von Unternehmen. Aus Burg Ölbrück ist nun eine Erlebnislandschaft geworden, die auf zehn Stationen so manches aus ihrer eintausendjährigen Burgengeschichte erzählt.

Über freiem Feld düse ich weiter steil bergab. Erst kommt der Ort Hain, wo ich immer geradeaus fahre, dann nach einem Kilometer Oberzissen. Dort folge ich der Hauptstraße und erreiche, nachdem ich den Brohlbach überquert habe, im Tal die Landstraße L111. Während ich am Vorfahrtschild warte, bemerke ich, dass ich genau an der richtigen Stelle stehe. An der Straßenecke befindet sich eine Gaststätte, die Schnellimbiss, Biergarten und Bikertreff zugleich ist. Das ist die ersehnte Abkühlung von innen. Willenlos, sackt mein Körper auf einem Plastikstuhl in dieser Ruhepause zusammen.

Autobahnbrücke A61 bei Niederzissen
Mit neu aufgetankter Energie kann ich also wieder losradeln. Ich brause vorbei an der Schmalspur-Eisenbahn, die von Brohl am Rhein nach Engeln führt und als „Vulkan-Express“ Ausflugstouristen magnetisch anzieht. Dass das Unikum einer Schmalspur-Eisenbahn gebaut wurde, ist der Verhandlungstaktik der Gemeinden zu verdanken. In der Normalspur hätten die Grundstückseigentümer enteignet werden müssen, während sie in der Schmalspur-Variante Eigentümer von Grund und Boden bleiben durften. Verständlicherweise lehnten die Grundstückseigentümer dankend ab, so dass dieses Unikat einer Schmalspur-Bahn entstand, welches den Transport von Vulkangestein zum Rhein sichtlich erleichterte.

Erst Oberzissen, dann Niederzissen, die Landstraße folgt dem Verlauf des Brohlbaches. Kelten und Römer siedelten im Brohltal, das belegen Funde von Äxten und Beilen aus der keltischen Zeit. Reste von Wasserleitungen, Heizungsanlagen, Krüge, Scherben, Statuen von Göttern fand man aus der Römerzeit. Wo der Wortstamm „Zissen“ herkommt, darüber ist viel spekuliert worden. Viele Theorien verweisen auf die Kelten. „Zissen“ bedeutet  so viel wie „rückwärts vom Rhein gelegen“ oder auch schweigen, verbergen, zurückhalten. Erstmals urkundlich erwähnt wird Zissen im 9. Jahrhundert.

Niederzissen, in direkter Nähe zur Autobahn A61, ist Sitz der Verbandsgemeinde Brohltal, mit Industriegebieten am Ortsrand. Dass der größte Flecken in dieser Verbandsgemeinde aufstreben und wachsen will, spüre ich am Ortsbild. Die Brohltalstraße windet sich an gleichförmigen Häusertypen vorbei. Fachwerkbauten, die den Zweiten Weltkrieg überstanden haben, sind verschwunden. Hier und da heben sich Gebäude ab, die aus schweren grauen Basaltquadern gemauert sind.

Ortskern von Waldorf
Als ich die ferne Autobahnbrücke der A61 erblicke, biege ich nach links ab auf die Waldorfer Straße, die zum nächsten Ort, nach Waldorf führt. Und ich erschrecke, denn, wie mit dem Lineal gezogen, steigt die Straße an. Gefühlt, sind das mindestens 10% Steigung. Eine weitere Route des Vulkanparks biegt ab, während ich mich geradeaus den Berg hoch quäle. Das ist der Bausenberg, der meinen Puls in die Höhe treibt. Ihn könnte man als Hausvulkan von Niederzissen beschreiben. Auf 22 Stationen kann der Wanderer den Vulkankrater erklimmen, der einzigartig ist, in seiner Hufeisenform, und dazu uralt nach seinem Ausbruch vor 150.000 Jahren.

Es kursiert sogar die Sage, dass ein Drache vom Bausenberg sein Unwesen getrieben hat. Er tötete Menschen und verbreitete Angst und Schrecken. So sollte ihm die einzige Tochter des Ritters von Ölbrück geopfert werden. Eines Abends klopfte ein unbekannter Reiter am Burgtor von Ölbrück an und bat um Einlaß. Der Schreckenstag der Opferung nahte. Als der wutschnaubende und feuerspeiende Drache erschien, stemmte sich der unbekannte Reiter ihm entgegen, kämpfte mit seinem Schwert, stach in eine schwache Stelle des Drachen hinein. Ein giftiger Blutstrahl schoß hoch hinauf, der Drache bäumte sich auf, sein Kampf mit dem Tod war kurz. Das Volk jubelte, und auf die Frage, wer er sei, antwortete der Unbekannte, er selbst sei der Heilige Georg, der Drachentöter. Danach verschwand er und wurde nie mehr gesehen.

Felder vor Sinzig
Oben angekommen, biege ich links ab, die Landstraße verläuft parallel zur Autobahn, bis sie unter einer Brücke hindurch nach rechts abknickt. Felder öffnen sich, Streuobstwiesen, Waldstücke in kleinen Parzellen, Strauchwerk, alleinstehende Kastanienbäume. Bachläufe haben sich tief in diese Gartenlandschaft eingegraben, so dass die Straße mit 8% Gefälle ins Tal hinab stürzt. Waldorf, der nächste Ort, überrascht in vielerlei Hinsicht. Die Reihenfeldergräber aus dem 7. Jahrhundert, die aus der Frankenzeit ausgegraben worden sind, sind dieselben wie diejenigen der Merowinger in Nordfrankreich. Dort hatte der Volksstamm der Wallonen gesiedelt, so dass man vermutet, dass die gemeinsame Vorsilbe „Wal“ ein Indiz dafür ist, dass die Wallonen eine Kolonie in Waldorf gegründet haben. Und noch etwas überrascht: Fachwerkhäuser lösen den Grundton der Gebäude in grauem Vulkangestein ab, und das in üppiger Anzahl. Wie geleckt, sind die Balken in sattem Rot gestrichen. Die Waldorfer tragen übrigens den Spitznamen „Möbbesköpp“, da sie einen zähflüssigen Sirup aus Birnen und Äpfeln herstellen, der „Möbbes“ genannt wird.

Direkt links im Ort, folge ich der Beschilderung nach Sinzig. Abermals geht es bergauf, auch hier mindestens gefühlte 10% Steigung. Die letzten Ausläufer der Eifel stressen sichtlich meine Kondition. Oben angekommen, präsentiert sich dieselbe Gartenlandschaft von Streuobstwiesen. Vor Franken, dem nächsten Ort, wiederholt sich das Spielchen. Das Hochplateau steckt voller Einkerbungen, tief geht es den Berg hinab, dann wieder hinauf. Auf dem letzten Stück nach Sinzig kann ich mich etwas erholen, denn sechs Kilometer lang purzelt die Straße ins Tal.

An der Stadtmitte von Sinzig fahre ich vorbei, weiter nach Remagen. Dort biege ich an der großen Kreuzung vor dem Bahnhof unter die Eisenbahnbrücke ab ins Zentrum. Einmal links, einmal rechts am Bahnhof vorbei, wieder links durch die Fußgängerzone, wieder rechts durch eine enge Gasse, dann bin ich am Rhein. Aber der Weg ist egal. Ich kann auch unter die Eisenbahnbrücke immer geradeaus zum Rhein fahren. Viel wichtiger ist das Brauhaus Remagen. Dort hocke ich mich auf der Rheinpromenade hin. Ich trinke zwei große naturtrübe Gläser Bier. Sie schmecken vorzüglich, nicht nur weil sie aus der hauseigenen Brauerei sind, sondern auch, weil die letzten Steigungen in meinen Knochen stecken. Ich muss meine Beine baumeln lassen. Meinem Gesäß tut das weiche Sitzkissen sichtlich gut.

in Remagen am Rhein

Wie gut, dass die restliche Strecke von 20 Kilometern flach ist. Meine Tritte sind schwerer geworden. Sachte rolle ich vorwärts, immer den Rheinradweg entlang, bis zum Alten Zoll.

Strecke (92 Kilometer):


Höhenprofil:



Sonntag, 10. August 2014

Barbarossa-Denkmal in Sinzig

Karolinger, Konradiner, Ottonen, Salier, Staufer, Habsburger, Wittelsbacher, die Liste der Herrschaftsgeschlechter der Könige des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation ist lang. Friedrich Barbarossa war Herzog von Schwaben und entstammte dem Herrschaftsgeschlecht der Staufer im Südwesten Deutschlands. Durch seine Eroberungen in Italien festigte er das deutsch-römische Reich. Mythen und Geschichten ranken sich um seinen Tod, als er 1190 beim Dritten Kreuzzug im Fluß Salaph in Kleinasien ertrank. Wie konnte das sein ? Ein überaus erfolgreicher Feldherr, der nicht schwimmen konnte ? Er, dem es zu verdanken war, dass die Gebeine der Heiligen Drei Könige von Mailand nach Köln gelangten ? Sinzig ist jedenfalls dem Kaiser zu Dank verpflichtet und nennt sich stolz Barbarossastadt, da der Kaiser mehrfach nachweislich in der Sinziger Pfalz verweilt hat.



Das Denkmal vom Kaiser Barbarossa war ein Geschenk zur Silberhochzeit. Dieses Jubiläum feierten die Eheleute Bunge 1875. Sie besaßen Textilfabriken in Düren und Köln und investierten in Goldminen in Südafrika und bauten zu derselben Zeit das Sinziger Schloß um. Ihre Kinder, die bestimmt genauso vermögend waren, schenkten ihnen dieses Denkmal.

Freitag, 8. August 2014

Rundgang durch Theux / Belgien

an der Hoegne
Ein eher bescheidener Urlaub in diesem Jahr, doch die abgespeckte Version kam mir Recht. Ich bevorzuge die stille Variante des Reisens. Grenzüberschreitend, mache ich mit dem Auto einen Streifzug durch das Städtedreieck Aachen-Maastricht-Lüttich. Morgens Maastricht, mittags zufälliger Abstecher nach Moelingen / Belgien, das die Ereignisse im August 1914 Revue passieren läßt, nachmittags Theux. In wilden Kurven jagt die Autobahn an Verviers vorbei. Eingequetscht im Tal, nehme ich wie sonst Verviers als eine düstere Ansammlung von Häusern wahr. Wie in einem Befreiungsschlag, schiebt sich danach die Autobahn steil hinauf. Theux, an der nächsten Abfahrt verlasse ich die Autobahn. Ich war noch nie in Theux, eine spontane Entdeckungsreise im Kleinen.  Als gerader Strich purzelt die Straße mit 10% Gefälle ins Tal hinab. Ich erlebe die Ardennen als ein entfesseltes Auf und Ab, mit Höhen und Tiefen, Verstecken und Schlupfwinkeln in den Wäldern, vor denen bereits Cäsar Respekt hatte. „Arduenna silva“ beschreibt er die Wälder in seinem Gallischen Krieg. Die Römer schafften es kaum, die Gallier in den Wäldern der Ardennen entscheidend zu besiegen, so dass in Belgien nur zwei Römerstädte Fuß fassen konnten: Tongeren in Limburg und Arlon nahe der luxemburgischen Grenze. Andere städtische Ansiedlungen waren mehr gallisch als römisch, um Gutshöfe drumherum entwickelten sich Ortskerne. Eine dieser galloromanischen Siedlungen befand sich in Theux.

Kirche St. Hermes-et-Alexandre
Ohne es geahnt zu haben, bin ich in einem geschichtsträchtigen Ort gelandet. Auf einer Steinbrücke überquere ich den Fluß „Hoegne“, der bereits in der Steinzeit besiedelt war, das belegen Funde von Pfeilspitzen. Die Einbahnstraße führt mich am Ortskern vorbei, ich parke.

Ich genieße, Dinge zu tun, die einfach sind. Alles ist hier übersichtlich und sauber sortiert. Burg oder Kirche ? Eine Turm, der zu einer Stadtbefestigung gehören könnte, schiebt das Kirchenschiff nach hinten. Die Komposition überrascht in der Tat, wobei St. Hermes-et-Alexandre eineindeutig eine Kirche ist. Und dies mit einem beachtlichen Alter, denn die Kirche wurde, so wie sie aussieht, 1091 erbaut. Unter der Kirche wurde sogar eine merowingische Kapelle aus der Zeit vom 4. bis 7. Jahrhundert gefunden.

Unkonventionell, einfach und klar strukturiert geht es auch gegenüber der Kirche St. Hermes-et-Alexandre zu. Ich muss genau hinsehen, wenn ich auf das Kriegerdenkmal schaue, das nicht nur die beiden Weltkriege mit den Jahreszahlen 1914/18 und 1940/45 aufzählt, sondern gleichrangig die Jahreszahl 1468. Auge in Auge bewegen sich ein Soldat mit Stahlhelm und ein Ritter mit Schwert, vereinigt durch das Wappen der Stadt Lüttich. Lüttich und Theux, über die Burg Franchimont, am Ortsausgang von Theux gelegen, verbanden sich die Schicksale der großen Stadt der Fürstbischöfe und der kleinen Provinzstadt. Die Fürstbischöfe hatten ihre Burg in Franchimont gebaut, die den Fürstbischöfen wiederum die Feinde vom Hals hielt. 1468 überfiel Karl der Kühne, Herzog von Burgund, Lüttich. 600 Ritter aus Franchimont ritten nach Lüttich, um zu helfen, doch sie wurden dort allesamt vernichtend geschlagen. Nach ihrem Anführer, Vincent de Bueren, ist heute in Lüttich eine monumentale Treppe benannt worden, die 600 Treppenstufen für die 600 Ritter zählt.

Das Ortsbild von Theux dominieren Häuser aus grauem Kalkstein, deren Quader sich zu massiven Mauern zusammenfügen, rostroten Ziegelsteinfassaden, an denen bisweilen Elektroleitungen in luftiger Höhe schweben, und weißgestrichene Fenster, deren Form der Umrandung zwar wechselt, aber die Steinblöcke erscheinen stets in einem strengen grauen Ton. Natürlich dürfen im Ortskern die üblichen Geschäfte nicht fehlen. Wenn ich denn Lust hätte, könnte ich bei „Fleurs Vilvorder“ Blumen kaufen,  „Coiffure Michelle“ könnte mir einen neuen Haarschnitt verpassen, beim Makler „Gilles“ könnte ich mich über das Immobilienangebot schlau machen.


Häuser in Theux (oben), Rathaus (unten)
Ich passiere das Rathaus, das 1771 der Architekt Barthélémy Digneffe aus Lüttich entworfen hat. An weiteren Rathäusern und Kirchen hat er in der Provinz Lüttich den Stil des Klassizismus verewigt. In einem Dreieck zum Rathaus, betont der Marktplatz klare Strukturen. Und auf der Mitte des Marktplatzes spüre ich, wie eng Theux mit Lüttich verbunden ist, denn in beiden Städten steht ein sogenannter Perron. Treppenstufen führen hinauf zu dieser grauen und schmalen steinernen Säule, das eiserne Kreuz erstarrt oben zum Symbol.

Wie eng Theux mit den Lütticher Fürstbischöfen verflochten ist, zeigt dieser Perron. Um seine Ursprünge ranken sich diverse Mythen, so soll er eine heidnische Kultstätte der Kelten gewesen sein. Klarer ist seine Wortentstehung aus dem Lateinischen: „petra“ bedeutet Stein, und alle Perrons sind Säulen aus Stein. In Lüttich entstand der Perron im 13. Jahrhundert, nachdem Lüttich eine eigene Stadt mit eigenen Stadtrechten geworden war. Er wurde an einer Stelle aufgestellt, an dem die Gesetze bekannt gegeben wurden, er verkörperte die Autorität und die Autonomie der Stadt, später wurde er zum Sinnbild für Freiheit. So findet sich der Perron heutzutage im Wappen der Stadt Lüttich wieder, begleitet von den Buchstaben „L“ und „G“. Diese stehen für „libertas gentes“, was „Freiheit des Volkes“ bedeutet.

Perron
1457 schenkte Lüttich den Bürgern von Theux für ihre Dienste der Verteidigung der Freiheiten des Fürstbistums einen Perron. Theux erhielt den Ehrentitel einer „bonne ville“, es bekam dieselben Rechte und kommunalen Freiheiten wie die Stadt der Fürstbischöfe. Die Säule steht für die weltliche Macht, das Kreuz für die kirchliche Macht. Natürlich findet man auch in deutschen Städten solche Symbole städtischer Freiheit: in Bonn ist es beispielsweise die Säule mit dem Löwen, in Bremen der Roland vor dem Rathaus.

Der Freiheitsgedanke hat die Provinz Lüttich aber noch ein Stück weiter durchdrungen. 1468 hat Karl der Kühne, nachdem die Ritter aus Franchimont vernichtend geschlagen worden waren, den Perron in Theux platt gemacht. 1477 starb Karl der Kühne, und sein Erbe Louis de Bourbon verlieh Lüttich wieder die Rechte eines eigenständigen Fürstentums, 1478 wurde der Perron in Theux wieder neu aufgebaut, Mitte des 18. Jahrhunderts war der Perron so stark verwittert, dass er nochmals durch einen neuen ersetzt wurde.

Ein neuer Schub von Freiheit kam mit der französischen Revolution 1789, die in Belgien komplett anders einschlug als in Deutschland, nämlich nur einen Monat später als in Frankreich, am 18. August 1789. Nachdem die Bastille in Paris gestürmt worden war, wiederholte sich ähnliches in Lüttich. Die Ernte drohte schlecht auszufallen, die Last der Steuern war für den Dritten Stand unerträglich, wesentliche Teile der städtischen Verfassung stammten noch aus dem Jahr 1386, die Fürstbischöfe übten einen verschwenderischen Lebensstil. Die Bürger von Lüttich protestierten, sie stürmten die Zitadelle, die Fürstbischöfe verließen die Stadt und flohen nach Trier. Truppen aus Kurköln, der Kurpfalz und Preußen marschierten ein, um den alten Zustand wiederherzustellen. Doch sie mussten mit Frankreich verhandeln, sie durften nur das Umland von Lüttich besetzen. Und dies unter der Bedingung, dass sie den Druck und die Verbreitung der revolutionären Schriften aus Frankreich dulden mussten.

Stadtwappen von Lüttich
Da Lüttich und Theux eng miteinander vernetzt waren, war es selbstverständlich, dass die Ideen der französischen Revolution nach Theux gelangten. Abgeordnete tagten vom 26. August 1789 bis zum 23. Januar 1791 in Theux. Am 16. September formulierten sie eine eigene Menschen- und Bürgerrechtserklärung, die noch weiter ging als diejenige in Frankreich, da der Dritte Stand und die Bevölkerung auf dem Land mit einem höheren Anteil in der Nationalversammlung vertreten sein sollte.

Diese Menschen- und Bürgerrechtserklärung kann ich auf einer Bodenplatte am Fuße des Rathauses nachlesen:

„Tous les hommes naissent et demeurent libres et egaux en droits, les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune. »
Auf deutsch :
« alle Menschen werden frei geboren und bleiben frei mit den gleichen Rechten; unterschiedliche soziale Schichten begründen einen gemeinsamen Nutzen für die Gesellschaft.“

Zufrieden stelle ich fest, dass meine spontane Entdeckungsreise im Kleinen sich zu bewegenden Themenkomplexen entwickelt hat. Steinzeit, gallorömische Siedlung, merowingische Kultstätte, karolingische Kirche, die Verbindung mit Lüttich, ein Perron, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ich bin geradezu erschlagen, welche Masse der geschichsträchtige Ort Theux zu bieten hat. Das hat sich gelohnt.

An der Friterie „Chez Alain – le petit chef“ lasse ich meinen Aufenthalt ausklingen. Fritten aus frischen Kartoffeln, wie es sie nur in Belgien gibt.

Friterie Chez Alain

Montag, 4. August 2014

Anna von Bayern - Wolfgang Bosbach "Jetzt erst Recht !"

Mir erging es anders als Wolfgang Bosbach.

Besuch bei der Gastroentologin. Ich war gelöst, als ich im Zimmer der Ärztin saß, die meine Darmspiegelung vorgenommen hatte. Ich dachte an nichts schlimmes, ich war erleichtert, dass das unangenehme Verschlingen von Massen an Flüssigkeit vorbei war. Das Foto einer blonden Schönheit lächelte mir aus einem hölzernen Rahmen von der Wand entgegen. War es ihre Tochter ?

„Alles in Ordnung. Kein Polyp“ teilte mir die Ärztin das Ergebnis mit. In diesem Moment war ich noch erleichterter, zumal sich sporadisch und zeitlich begrenzt Blut in meinen Stuhlgang hinein gemischt hatte.

Das war anders bei Wolfgang Bosbach, Vollblutpolitiker, ein Unruheherd, ständig in Bewegung. „Es darf keinen Stillstand geben, sonst schlafe ich ein“ so beschreibt er seine Antriebsmechanismen. Zwischen Wahlterminen, Sitzungen, Redeveranstaltungen und Fernsehauftritten bleibt da kaum Zeit für eine regelmäßige Krebsvorsorge. 2010 Krebsoperation an der Prostata. Da hieß es, er hätte noch eine Lebenserwartungszeit von 23 Jahren. Doch ein Jahr später war alles komplett anders. Wie ein Streuselkuchen war sein Körper voller Krebs, das stellten die Onkologen in einer Computertomografie fest. Nun unterzieht sich Bosbach, 62 Jahre alt, in Intervallen einer Strahlentherapie, um überhaupt noch ein paar restliche Lebensjahre für sich zu haben. Und das bei unverändert hoher Taktung.

In meinem Blog befasse ich mich weniger mit politischen Themen. Im Tagesgeschäft der Massenmedien wird so viel über Politik berichtet, kommentiert und kritisiert, dass ich nicht unbedingt meinen eigenen Senf dazu geben muss. Dafür befasse ich mich gerne mit allem, was aus dem Rheinland kommt. Und bei Wolfgang Bosbach kann man den rheinischen Tonfall nicht überhören. Freundlich, bestimmt, kurzweilig, mit klaren Standpunkten und hoher Sachkenntnis habe ich ihn stets wahrgenommen, kurzum: ein sympathischer Zeitgenosse.

Die Bild-Journalistin Anna von Bayern hat über mehrere Monate den Spitzenpolitiker begleitet. Ihre Einblicke ins politische Tagesgeschäft sind stets spannend, anekdotenhaft geschrieben, verzahnt zwischen dem Berufspolitiker und seiner Familie. Machtstrukturen schillern durch. Diese sind mehr starr als beweglich: aus Wahlergebnissen, aus Koalitionsverträgen, aus den Verhältnissen im Bundestag/Bundesrat, aus Besetzungsoptionen durch die Landesverbände der Parteien, vorbestimmt durch Kenntnisse und Fachwissen, das Verhältnis zur Bundeskanzlerin spielt naturgemäß auch eine Rolle – und dieses ist tendenziell nicht schlecht, aber nicht gut genug. So ergab es sich, dass er sein Lebensziel, nämlich einmal Minister zu werden, nicht erreichte, worüber er sich nicht beklagt.

Es empfiehlt sich, auf der richtigen Seite zu stehen, das sagt Wolfgang Bosbach. Für offene Meinung, unbedachte Rede oder Ironie ist nur bedingt Platz, das sind seine Erfahrungen im Politikgeschäft. Anna von Bayern zitiert die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, um dies zu verdeutlichen: „Die Demokratie darf nicht zu einer Herrschaft von wenigen Meinungen werden, in der die Führung der Masse diktiert, was gilt. Die Führung ist dabei auf ihre eigenen Interessen, ihrem persönlichen Nutzen und dem Erhalt der Machtstruktur ausgerichtet. Die Ziele der Gruppe, die von ihr dominiert wird, geraten in den Hintergrund. Diese Elite führt keine inhaltlichen Debatten mehr … Diese Elite glaubt, auf die großen Diskurse über die Fragen unserer Zeit zu verzichten. Stattdessen werden die Debatten in Randthemen geführt, wo die Elite sich mit großen Kraftanstrengungen profiliert.“ Dieses Schema passt auf die Machtstrukturen einer Angela Merkel, aber auch auf andere Bundeskanzler.

Der Weg hinein die politische Karriere des Wolfgang Bosbach war ungewöhnlich, denn er begann sein Berufsleben als Einzelhandelskaufmann bei der er Konsumgenossenschaft Köln eG/Coop West AG in Köln, wo er später Supermarktleiter wurde. Das merkt man bei diversen Fernsehauftritten, dass er kein Standardrepertoire von Floskeln herunter betet, sondern kundenorientiert auf Sachfragen  eingeht, mit den Gesprächspartnern redet und einen gemeinsamen Dialog führt. Und dies mit den Stärken eines Rheinländers: er behandelt andere mit Respekt, er kann Menschen nehmen, wie sie sind, mit Humor löst er spannungsgeladene Situationen.

Über die Kommunalpolitik  in Bergisch Gladbach schaffte er es in den Bundestag. 1994 wurde er Bundestagsabgeordneter, seit 2009 verantwortet er gemeinsam mit 37 Abgeordneten den Innenausschuß. Dort beackert er innenpolitische Themen, genauer gesagt, innere Sicherheit, Ausländer, Asylverfahren, Katastrophenschutz, Datenschutz und IT-Sicherheit.

Die Partei von Wolfgang Bosbach habe ich nie gewählt, doch seine konserative Einstellung ist mir nicht unsympatisch. „Multikulturelle Gesellschaft“, das war ein Schlagwort der 1990er Jahre, ein Stück überlebte Hippie-Bewegung und Musikfestivals, auf denen man nach den Rhythmen der ganzen Welt tanzte. Die Welt sollte ein kleines Dorf sein, fremde Kulturen sollten uns inspirieren.

Das ist definitiv gescheitert, weil sich Parallelgesellschaften gebildet haben, die sich abschotten, mit Integration nichts zu tun haben und Angriffspunkte für rechtsextremistische Tendenzen bilden. Dazu kommen islamische Gotteskrieger, die solche Parallelgesellschaften mobilisieren und Bomben und Terror importieren wollen.

Von den Träumen einer multikulturellen Gesellschaft habe ich mich längst verabschiedet. In der Zuwanderungskommission versucht Bosbach dagegen zu halten. Ausländer müssen sich einordnen in die kulturellen Lebensverhältnisse, sie müssen an Deutschkursen teilnehmen. Das Zuwanderungsgesetz wurde überarbeitet mit der einen Stoßrichtung, dass ein Straftatbestand der illegalen Einwanderung eingeführt wurde und mit der entgegengesetzten Stoßrichtung, dass die Fälle der Duldung weiter gefaßt wurden, weil sie sich über den Arbeitsmarkt integrieren können. Zudem konnte sich in einigen Ländern sich das Kopftuchverbot in öffentlichen Ämtern durchsetzen. Andere Vorstöße, wie die Vorratsdatenspeicherung, den elektronischen Fingerabdruck in Ausweisen oder umfassendere Observationen durch das Bundeskriminalamt, konnte er nicht durchsetzen. Wolfgang Bosbach meint dazu kurz und knapp, dass er an maßgeblicher Stelle mitgearbeitet hat, nicht mehr und nicht weniger. Über sich ergehen lassen musste er all die Ermittlungspannen bei der Aufklärung der NSU-Mordserie. Dauerthema wird für lange Zeit die NSA-Überwachung sein.

Um alle Themen zu besetzen, übt er sich im Kunststück der Multipräsenz. „Es darf keinen Stillstand geben, sonst schlafe ich ein“ mit dieser Einstellung nimmt er seine Lebensaufgabe in der Politik wahr. Das geht so weit, dass er seine Präsenz in den Massenmedien über seine Gesundheit stellt. Er geht keinem Mikrofon aus dem Weg und bremst für keine Kamera. So sank im März 2013 seine Herzleistung auf unter 10 Prozent, ein neuer Herzschrittmacher samt Defibrillator gegen den plötzlichen Herztod musste eingepflanzt werden. Schon zwei Tage später saß er im Fernsehen und stellte sich Fragen in einer Talkrunde bei Sabine Christiansen.

 „Jetzt erst Recht“ beschreibt den Kern eines Politikers, der offensiv mit seiner Erkrankung umgeht und als Allroundgenie in allen Ecken der Innenpolitik mitmischt. So leicht gibt er nicht auf.  Mit seiner Krankheit blickt er nach vorne. „Wenn Du mit der Krankheit fertig bist, stehst Du ebenfalls die Probleme in der Politik durch“ so sieht er seinen Krebs nicht als Hemmnis, sondern als Antriebsriemen.

Er lebt intensiver und zitiert dabei die Toten Hosen: „An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit“.