Dienstag, 31. März 2015

Troisdorf - Neubau der Umgehungsstraßen K29n und EL332

Baustellenschild K29n
Der Ortseingang von Eschmar dämpft die Geschwindigkeit, in einer satten Kurve links vorbei am Bauernhof „Himmel und Erde“, dann 30er-Zone. Der Fahrradweg, aufgemalt als gestrichelte Linie auf der Fahrbahn, dann blockieren Linksabbieger zum Krankenhaus die Weiterfahrt.  Aral-Tankstelle, dann abbiegende Vorfahrt, einmal links, einmal rechts, die Ampel an der Apotheke an der Ecke ist der nächst potenzielle Wartepunkt. Dann der Kreisverkehr an der RSVG, der einen in ein regelrechtes Schleudertrauma versetzen kann, der Friedhof an der Ecke, die nächste Ampel, Feuerwache, Hilton-Hotel, ab der Autobahnauffahrt auf die A59 geht es nun etwas flüssiger nach Troisdorf, ohne störende Ampeln, auf dem gut ausgebauten Innenstadtzubringer.

Wer über die Stadtteile Eschmar und Sieglar nach Troisdorf hinein gelangen möchte, der muss Geduld mitbringen. Auto reiht sich an Auto, Stoßstange an Stoßstange, die einzige Durchgangsstraße leidet an Dauerverstopfung. Seit rund 40 Jahren begehrt eine Bürgerinitative auf gegen Verkehrslärm, Autoabgase und Dauerstau. Seit rund 40 Jahren gibt es ein Konzept zum Bau einer Umgehungsstraße und seit rund 40 Jahren beweist die gute deutsche Bürokratie, dass kaum jemand all das Planungschaos überblickt. Seitdem sind die Wortführer der Bürgerinitiative alt geworden, man fühlt sich verschaukelt, belogen, betrogen in Troisdorf-Eschmar und Sieglar. Es muss um 1975 gewesen sein, als die Planungen einer Umgehungsstraße aufgenommen wurden. Bei Umgehungsstraßen, genauso bei Bahnlinien, Flughäfen, Kraftwerken oder Binnenhäfen ist ein sogenanntes Planfeststellungsverfahren durchzuführen, in dem die Belange der betroffenen Bürger unter die juristische Lupe genommen werden.

Anfang der 1980er Jahre wurde ein solches Planfeststellungsverfahren beschlossen, es wurde aber 1988 wieder aufgehoben, da die Trasse zu dicht an Wohngebieten vorbei führte. Also durfte erneut geplant werden. In einem zweiten Planungsfeststellungsverfahren wurde die Trasse von den Wohngebieten weiter weg geschoben. Dabei gingen die Planungsschritte ungefähr im Zehnjahresrhythmus weiter. Für die Prüfung von sieben Varianten des Straßenverkaufs brauchten die Planungsverantwortlichen sieben Jahre. Das eigentliche Planfeststellungsverfahren, in dem das öffentliche Interesse der Umgehungsstraße festgestellt wurde, in dem Grundstückeigentümer angehört wurden, in dem eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt wurde, und in dem schlussendlich Felder von Bauern enteignet werden konnten, beanspruchte weitere dreizehn Jahre, so dass 2008 das zweite Planfeststellungsverfahren beendet war.

Landkarte: K29n (blau) und EL332 (grün)
Es ist nur ein kleiner Schritt, aber nun hat sich nach 40 Planungsjahren sichtlich etwas bewegt. Eher zufällig, spulte ich auf meiner Rennradtour die letzten Kilometer durch Wohngebiete in Troisdorf-Sieglar herunter. Eine Baustelle zwang mich dazu, rechts abzubiegen, erste Blütenteppiche aus Krokussen, Narzissen und Hyzinthen sammelten sich in den Vorgärten, Einfamilienhäuser mit Grün und umliegenden Gärten atmeten Freiheit. Schüchtern schob sich das eine oder andere Auto durch die menschenleere Straße. Dann wieder links, ruckelte ich über den Bürgersteig, der gerade Strich des Fahrradwegs endete im Nichts der nächsten Baustelle. Vor Troisdorf-Kriegsdorf hatte das Straßenband einer Umgehungsstraße konkrete Gestalt angenommen.

Ich stieß auf einen halbfertigen Kreisverkehr, der noch in den Stadtteil Kriegsdorf hineinführte, aber bald einen Bogen um diesen Stadtteil schlagen sollte. Ich las auf dem Baustellenschild „Neubau der Umgehungsstraße K29n, Bauzeit 110 Werktage“. Es ging also doch, dachte ich vor mir her. Der Asphalt schimmerte in der Frühlingssonne, rot-weiße Warnbaken sperrten die gelbe Straßenmarkierung ab. Arbeiter verirrten sich zwischen einem Dixi-Klo und grünen Baustellencontainern. Wie die Beine von Insekten, staksten die Masten der Straßenbeleuchtung, noch ohne Licht, in die Höhe. Obschon nun ganz offensichtlich ist, dass gebaut wird, haben sich dennoch die Gemüter erregt. Die Planungsverantwortlichen haben die Baumaßnahme nämlich in zwei Abschnitte aufgeteilt: die Umgehungsstraße von Kriegsdorf, das ist die K29n im ersten Bauabschnitt, und der Umgehungsstraße EL332 von Troisdorf-Eschmar und Sieglar im zweiten Bauabschnitt. Die Umgehungsstraßen machen nur Sinn, wenn sie beide gebaut werden, denn sonst verstopft all der Autoverkehr wie gehabt die Troisdorfer Stadtteile Sieglar und Eschmar.

Wenn die Bewohner Glück haben, könnte sich auch in Richtung Sieglar und Eschmar etwas tun. Denn dort, wo der Fahrradweg durch die Felder gesperrt ist, schieben sich nun Baukräne und Erdhaufen ins Blickfeld. Wird dort die Umgehungsstraße weiter gebaut ? So richtig weiß es niemand. Zu oft ist die Landesregierung mit einer Ja-Aber-Strategie ins Feld gezogen. Einerseits befürwortet sie den Bau, andererseits hält sie sich mit nebulösen Floskeln bedeckt.

Baukräne über den Feldern: wird dort weiter an der EL332 gebaut ?
Nach dem Planfeststellungsbeschluss von 2008 ist die Lage zum absurden Theater geworden. Obschon verfassungsrechtliche Fragen in dreizehn Jahren Planfeststellungsverfahren eigentlich hätten entschieden werden müssen, wurde fleißig weiter geklagt. Erst vor dem Kölner Verwaltungsgericht, dann vor dem Landesverfassungsgericht in Münster. Und wie so oft bei öffentlichen Vorhaben, haperte es am Geld.

Dieses ökonomische Verteilungsproblem knapper Finanzen ist für die Verkehrsplaner das Kernproblem, wobei dies nicht immer nachvollziehbar ist, wenn man etwa darauf schaut, wieviel Mineralölsteuer der Staat beim Tanken einkassiert. Dabei muss nicht nur das Straßennetz, sondern auch das Schienennetz, das Wasserstraßennetz oder auch das Radwegnetz geplant werden. Marode Rheinbrücken, der Ausbau der S-Bahn-Linie 13 nach Bonn-Oberkassel, die Lärmbelästigung durch den Güterverkehr auf der Rheinschiene: zu viele Themen mit einer hohen Dringlichkeitsstufe schießen quer, so dass die Verteilung des Verkehrsetats einem Jonglieren auf einem Drahtseil mit unendlich vielen Keulen gleicht.

Speziell, was Umgehungsstraßen betrifft, war die Entscheidung der rot-grünen Landesregierung in NRW fatal, Gelder von Neubaumaßnahmen zur Sanierung des vorhandenen Straßennetzes umzuschichten. Dies macht hochgradig Sinn, denn niemand will an anderer Stelle über Rumpelpisten von Schlaglöchern fahren.

Spätestens seit dieser Entscheidung, das war 2010, wurde die Brechstange ausgepackt. Manche Bürger protestierten vor dem Troisdorfer Rathaus, andere Bürger klagten vor dem Verwaltungsgericht auf Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses aus dem Jahr 2008. Alle, die etwas zu sagen hatten, schrieben sich die Hände wund. Die Bürgerinitiative an den Regionalrat der Bezirksregierung, der SPD-Bürgermeister an die Verkehrskommission der Kölner Regierungspräsidenten, die CDU des Stadtrats Troisdorf an den Fraktionsvorsitzenden der CDU in der Landesregierung NRW, der Bürgermeister an Hannelore Kraft, die Bürgerinitiative an den Verkehrsminister des Landes NRW, die Grünen richteten einen Dringlichkeitsappell an das Land NRW. Es wurde auch persönlich miteinander gesprochen: der Troisdorfer Bürgermeister schaffte es, beim parlamentarischen Staatssekretär im Verkehrsministerium des Landes NRW vorzusprechen. Derweil dürfte sich dieser Papierberg bei Hannelore Kraft & Co in Düsseldorf turmhoch stapeln. Ob dieser Papierberg jemals gelesen wird, erscheint fraglich, da den Verantwortlichen wegen des ökonomischen Verteilungsproblems ohnehin die Hände gebunden sind.

neue Verkehrstrasse der K29n
Immerhin haben all diese Schreiben insofern geholfen, dass 2,6 Millionen Euro für die Umgehungsstraße K29n bereitgestellt wurden. Anscheinend sind 1,5 Millionen Euro für die Fortführung der EL332 eingeplant, die dann nach mehr als 40 Planungsjahren die Sieglarer und Eschmarer Bürger von Verkehrslärm, Abgasen und Dauerstau befreien könnten. Weitergehende Fragen lässt die Landesregierung in NRW aber offen: einerseits ist die EL332 in den Landesstraßenausbauplan mit der Dringlichkeitsstufe 1 eingeplant, andererseits werden die dazugehörigen Straßenbauvorhaben je nach Verfügbarkeit von Haushaltsmitteln in den Folgejahren abgearbeitet. Überspitzt formuliert, stellt sich die Frage, in wieviel Jahrzehnten denn die Umgehungsstraße EL332 kommen wird. Die Planungszyklen nähern sich dem Bau von Kathedralen, mit einem Straßenbauwerk als Endergebnis, dessen Form und Gestalt niemals an eine Kathedrale heran reichen kann.

Jedesmal, wenn ich ungefähr im Schritttempo durch Troisdorf-Eschmar und Sieglar tuckere, im Stop-and-go-Rhythmus vorwärts komme und schön darauf achte, dass ich in der 30er-Zone die Geschwindigkeit nicht überschreite, denke ich an die heimischen Verkehrskonzepte, die nur Stückwerk sind und in dessen Nirwana alle den Überblick verloren haben.

Wenn ich an ein bestimmtes Vorhaben denke, zwanzig Kilometer weiter südlich am Rande des Siebengebirges gelegen, dann steigt in mir die Wut hoch. Dort liegt der Fall genau umgekehrt wie bei der EL332 in Troisdorf: den Ennertaufstieg, der quer durch das Siebengebirge führt, wollen ein paar Autofahrer, während die Umweltschützer Sturm laufen gegen die Verlängerung der Autobahn A562. Im Bundesverkehrswegeplan scheint es kein ökonomisches Verteilungsproblem zu geben. Gelder sind eingestellt. Im Ennertaufstieg sammelt sich all die Schizophrenie unserer Verkehrsplanung. 

Mittwoch, 25. März 2015

mit dem Rennrad rund um den Flughafen Köln/Bonn

Baustellenchaos in St. Augustin
Das ist schrecklich, wie in St. Augustin der Radweg zwischen Baggern, Absperrzäunen und Betonskeletten endet. Mühselig muss ich mich zurechtfinden in dieser Abbruchwüste. Noch stemmt sich das grüne Logo des „HUMA Einkaufsparks Sankt Augustin“ gegen Abbruch, Niedergang und Wiederaufbau. Über eine provisorische Brücke aus Beton muss ich wechseln auf die andere Seite der Straßenbahnlinie 66. Treppenstufen weisen den Weg in  eine Orientierungslosigkeit, graue Kästen von Baustromzählern ticken still vor sich her,  Berge von Bauschutt verirren sich neben der Straßenbahnstelle, auf die, wie von Gespensterhand gelenkt, Busse zufahren. An diesem Punkt erschrecke ich vor der Dimension, was sich die Projektverantwortlichen des HUMA Einkaufsparks St. Augustin vorgenommen haben. Das eine Einkaufszentrum, das sind immerhin 42.000 Quadratmeter Verkaufsfläche, soll platt gemacht werden. Auf den Parkplätzen und zur Bundesstraße 56 hin, soll nun wie ein Phönix aus der Asche, das neue Einkaufszentrum neu gebaut werden, das wird ein bißchen weniger Verkaufsfläche mit 39.000 Quadratmeter sein, noch schöner, mit mehr Geschäften, zeitgemäß für den Erlebniseinkauf und, damit brüsten sich die Verantwortlichen im Bauamt, den Vorschriften des Brandschutzes auf hohem Niveau genügend.  „Der Neubau ist ein großer Schritt auf dem Weg zum Ziel“, „ein zukunftsweisendes Projekt, für das die Zeit reif ist“ oder „ein beispielhaftes Projekt“, so lese ich die Jubelmeldungen in der örtlichen Presse, während ich kritische Stimmen vermisse. Ich selbst bin bestürzt vor solchen größenwahnsinnigen Dimensionen, vor solch einem Wettrüsten der schönsten Einkaufsmeilen und davor, dass die Käuferscharen dem totalen Konsum blind hinter rennen wie eine Büffelherde dem  Leittier.

Ab dem Alten Zoll bin ich herausgeradelt aus Bonn über Beuel, ab der Kreuzung mit der Königswinterer Straße habe ich die Straßenbahnlinie 66 begleitet, in Teilen auf einem eigenen Radweg. An dem Baustellenchaos des HUMA Einkaufsparks wurstele ich mich vorbei, und ohne Dreck und Lärm und Chaos befreie mich zur Bundesstraße 56 hin. Auf der Höhe des LIDL-Discounters wechsele ich die Straßenseite. Der Radweg, nicht in allerbestem Zustand, kleckert sich entlang der Bundesstraße dahin, der ich immer geradeaus nach Siegburg folge, über die Autobahnauffahrt hinweg, über einen Kreisverkehr, eine Ampel an einer großen Kreuzung und noch einen kleinen Kreisverkehr, auf dem einem schwindlig wird. Unterhalb der Abteikirche, an der St. Servatius-Kirche vorbei, gelange ich zum Marktplatz, in dessen Mitte ein Kriegerdenkmal die Schlachten des deutsch-französischen Krieges 1870/71 aufleben läßt.

Marktplatz Siegburg
Im Gegensatz zum HUMA-Einkaufsparks in St. Augustin, das in der öffentlichen Meinung anscheinend einhellig befürwortet wird, hatten sich in Siegburg lange Zeit die Gemüter erregt. Mit dem Marktplatz, der Servatiuskirche, dem vergoldeten Annoschrein, dem Kloster auf dem Michaelsberg, eingebettet in eine Zeitreise ins Mittelalter, hatte Siegburg lange die Nase vorn. Kaufhof, C&A und Co. lockten als Shopping-Paradies, doch die umliegenden Städte Troisdorf, Hennef, auch Köln-Porz hatten mit großspurigen Einkaufspassagen in ihren Fußgängerzonen aufgerüstet.

Wie verhalten sich die Stadtherren, wenn ein Investor aus einem Geldkoffer 100 Millionen Euro ausschütten will und damit ein neues Einkaufszentrum bauen möchte ? Die Verlockungen sind groß, bei 17.000 Quadratmeter Verkaufsfläche, und wenn man all die Geschäfte in der Siegburger Fußgängerzone dazu zählt, hätte Siegburg das HUMA Einkaufsparadies in St. Augustin locker überholt. So schlüpfte die CDU-Führungsspitze der Stadt Siegburg 2010, als der Investor ECE zu planen begann, in die Rolle von Predigern und Heilsverkündern, Siegburg würde auf Jahre und Jahrzehnte hinaus unerreichbar sein, was die Anziehungskraft von Konsumentenströmen betraf. Eine einzige Schlacht müsse geschlagen werden, dieses Riesen-Einkaufszentrum zu bauen, dass sich in die halbe Innenstadt, von der Rhein-Sieg-Halle über das Rathaus bis zum Marktplatz fressen würde, dann würden bis in alle Ewigkeit unerschöpfliche Geldquellen des Konsums sprudeln.

Während die Propagandamaschine der CDU-Ratsherren auf Hochtouren lief, spaltete sich die öffentliche Meinung an dem platten, schmucklosen Bau des Rathauses. Wieso abreißen ? Brauchen die Siegburger einen Konsumtempel in solchen größenwahnsinnigen Dimensionen ? Was sagen alteingesessene Einzelhändler dazu ? Es formierte sich eine Bürgerinitiative gegen das Einkaufszentrum des Investors ECE, wobei die Bürgerinitiative herausfand, dass in bereits durchgeführten Projekten des Investors ECE viele Klein- und Mittelstädte außerhalb der Einkaufszentren jämmerlich verödeten, während die Käuferscharen gezielt auf das Einkaufszentrum gelenkt wurden. Einzelhändler gingen auf die Barrikaden und setzten eine Volksabstimmung der Siegburger Bürger durch.  

Rathaus oder Einkaufszentrum ? An dieser Glaubensfrage schieden sich im September 2010 die Geister, wobei die Einzelhändler ihre Situation simulierten, wenn denn das Einkaufszentrum gebaut worden wäre. Mit Pappe klebten sie ihre Schaufenster zu, „Geschlossen wegen Geschäftsaufgabe“, „Wir schließen – alles stark reduziert“, „Räumungsverkauf – zwei Teile nehmen, ein Teil zahlen“, all diese Appelle zeigten Wirkung: Zwei Drittel der Siegburger lehnten das Einkaufszentrum ab, so dass im Endeffekt die Vernunft siegte.

Tümpel vor Lohmar
Über die Holzgasse schiebe ich weiter, am Ende der Fußgängerzone nach links auf den Radweg der früheren Eisenbahntrasse von Siegburg nach Lohmar. All die Absperrungen, die alle paar Meter den Radweg unterbrechen, sind ärgerlich, da sie eine unterbrechungsfreie Fahrradfahrt erschweren. Was diese Rennradtour ausmacht, das sind die Wechsel vom Ballungsraum in die Natur. Die Wechsel kommen unerwartet, grüne Oasen tun sich auf, Hektik wechselt schlagartig in Ruhe und Entspannung. Einen solchen Wechsel erlebe ich, nachdem ich den Stadtrand von Siegburg hinter mir gelassen habe. Mit einem Mal gleite ich durch Laub- und Kiefernwald, vorbei an verrosteten Bahngleisen, plötzlich versinkt ein vom Sturm niedergestreckter Baum in einem Teich. Die Teiche hatten System. Entlang der alten Bahnlinie, befinde  ich mich am Rande des Teichsystems zwischen Siegburg und Lohmar, das auf seine Ursprünge im Mittelalter zurückblicken kann und das als Stallberger Teiche in den Güterverzeichnissen der Siegburger Abtei geführt wurde.

Ich radele weiter und bin nun mittendrin in der Wahner Heide. Diese ist Teil der Bergischen Heideterrasse, die östlich von Düsseldorf beginnt, den Übergang von den Mittelgebirgslandschaft des Bergischen Landes in die Niederrheinische Tiefebene markiert und bei Hennef ausläuft. Bis in das 18. Jahrhundert unterschied man noch in geografische Heidebezeichnungen, das war dann die Troisdorfer Heide, die Spicher Heide, die Heumarer Heide, die Urbacher Heide, die Altenrather Heide und so weiter. Seitdem hat sich dieses verzweigte Heidegebiet in der Kernzone der „Wahner Heide“ vereinigt, egal, ob Heidevegetation dominiert, Wiesen in Flußtälern, Auenwälder oder auch Fischteiche.  

Das Ende des Radwegs führt mich auf die Bundesstraße B484, der ich nach links folge. Vom Mittelpunkt „Wahn“ bin ich noch ein langes Stück entfernt, bis dahin muss ich zunächst Vorlieb nehmen mit Industriegebieten in Lohmar.  Mit der chaotischen Radwegführung auf der linken Straßenseite empfinde ich Lohmar nicht gerade als fahrradfreundlich, daher wechsele ich auf die Bundesstraße. Zwei Kilometer weiter geht es geradeaus, dann biege ich am Kreisverkehr nach links ab an den Lohmarer Höfen vorbei und folge der Beschilderung in Richtung Troisdorf. Hinter der Aggerbrücke setzt sich der Mischwald aus Buchen und Kiefern wieder durch, und dann geht es für ein einziges Mal steil den Berg hinauf. Wenn man von diesem Anstieg absieht, ist diese Rennradtour flach. Ich folge dem Hinweisschild geradeaus in Richtung Köln. Nach dem nächsten Kreisverkehr, auf der Höhe von Altenrath, bewege ich mich mit den zunehmend sandigen Böden auf das Kerngebiet der Wahner Heide zu.

Sandböden in der Wahner Heide
So wie heute im Grenzbereich zwischen Mittelgebirge und Flachland, so lag dieses Gebiet vor rund 70 Millionen Jahren im Grenzbereich von Land und Meer. Die Nordsee war bis in die Kölner Bucht vorgedrungen, das Meer wich wieder zurück, das war vor 20 Millionen Jahren. Vor rund 10.000 Jahren wurden dann die Böden der Wahner Heide so geformt, wie wir sie heute wieder finden. Stürme formierten sich, sie saugten sich voller Meeressand. Die Sandstürme müssen verheerend gewesen sein wie in Wüstenregionen. Stellenweise sah es aus wie an der Nordseeküste, denn Dünen bis zu zehn Meter Höhe türmten sich auf, Dünen, die heute Gräser oder Heide oder Kiefernwälder oder Birkenwälder bedecken. Auch der höchste Punkt der Wahner Heide, der 154 Meter hohe Telegrafenberg, ist eine aufgewehte Düne.

Doch die Wahner Heide ist nicht nur Sand, sondern auch der Wechsel zwischen trocken und feucht. Über Sanden fließt Wasser schlecht ab, und so hatte sich in den Senken der Wahner Heide das Wasser gestaut, sogar Moore hatten sich gebildet. So waren die hauptsächlichen Bewirtschaftungsformen die Schafzucht und der Torfabbau, so steht es in einer Chronik der vier Dorfschaften Troisdorf, Sieglar, Spich und Altenrath aus dem Jahr 1821. Dabei aßen die Schafe alles ratzekahl, so dass selbst Heidekraut kaum noch zu finden war. Das Landschaftsbild sollte sich aber bald ändern, denn der Preußische Staat hatte bereits 1817„minderwertiges Heideland mit sumpfigen Stellen und ebensolcher Umgebung“ gekauft. Eigentlich wollten die Preußen das Gelände als Truppenübungsplatz nutzen, wozu dieses sich aber wegen der feuchten, versumpften und  moorähnlichen Stellen wenig eignete. Also musste all die Nässe und Feuchtigkeit abgeführt werden, Entwässerungskanäle wurden gegraben, dieses System von Kanälen trocknete weite Flächen aus.

Ich fahre weiter durch Wald und Heide. Alles ist noch winterlich kahl, zumal die Heideflächen ohnehin erst im September blühen. Rasch stoße ich auf das Monstrum des Köln-Bonner-Flughafens, der sich mit seinen gewaltigen Dimensionen in die Landschaft hinein gefressen hat. Von seiner Rückseite aus kann ich einen Teil dieser Dimensionen erahnen: in der Ferne in unerreichbaren Weiten schraubt sich der Tower in die Höhe, umringt von den beiden Terminals für An- und Abflüge, undefinierbaren Hallen und Hangars. In der Märzstimmung vermischen sich die Grautöne der Start- und Landebahnen, von Sand und von Gräsern, begleitet von einem schwerfälligen Himmelsgrau.

Dass Flugzeuge starten und landen, dürfte trivial sein. Aber aus dieser Selbstverständlichkeit wächst an diesem Punkt eine technische Faszination, denn die Straße kreuzt genau die Landebahn. Alle paar Minuten kommt aus östlicher Richtung, das dürfte ungefähr Rösrath sein, ein solcher Riesenvogel herangeflogen, der sich fast bis zur Straße nähert, als könnte man nach ihm greifen, um vielleicht einen Kilometer weiter auf der Landebahn aufzusetzen, sanft und elegant, als würde ein gepolstertes Kissen gestreichelt. Ich schaue mir dieses Schauspiel ein paar Mal an, dann geht die Fahrt weiter.



Flughafen Köln/Bonn:
Tower (oben), landende Flugzeuge (Mitte und unten),
Verbotsschild Munitionsbelastung (Mitte)
Dass hier einmal fast ohne Unterbrechung und ohne Pause  Flugzeuge in die ganze Welt ausschwärmen und wieder einkehren würden, daran hatte niemand gedacht, als die Preußen 1817 „minderwertiges Heideland mit sumpfigen Stellen und ebensolcher Umgebung“ gekauft hatten. Wie es sich für Soldaten gehört, tarnten sie sich auf dem Truppenübungsgelände, sie robbten durch das Unterholz, übten Angriff und Verteidigung. Dabei übten die Soldaten vor allem eines: das war das Schießen. Da der technische Fortschritt absurderweise auch das Töten von Menschen perfektionierte, wurde nicht nur aus Gewehren und Kanonen geschossen. Maschinengewehre, Mörser, Haubitzen, Granaten wurden getestet, die Reichweiten der neuen Waffen wurde immer länger.

Einen Technologieschub der allerersten Kategorie brachte der Erste Weltkrieg, der als Geburtsstunde des Köln-Bonner-Flughafens bezeichnet werden kann. Die Gebrüder Wright hatten 1902 das Zeitalter der motorisierten Luftfahrt eingeläutet. Da die Westfront in Nordfrankreich in einem Stellungskrieg erstarrt war, glaubten die Militärstrategen, Flugzeuge für einen Fronteinsatz weiter entwickeln zu können und damit den Kriegsgegner in die Knie zwingen zu können. So wurde 1915 eine Graspiste mit Lochblechen auf einhundertfünfzig Meter verlängert, das war die erste Start- und Landebahn für die Propellermaschinen der Herstellerfirmen Albatros, Haifisch, Fokker oder Junkers, die dann an die Westfront ausflogen. Den nächsten Technlogieschub brachten die Nationalsozialisten, die den Flughafen ausbauten und für den Bombenkrieg aufrüsteten. Erst in der Nachkriegszeit wurde der Flughafen zivil genutzt, als der zivile Teil vom innenstadtnahen Flughafen Butzweilerhof in die Wahner Heide verlagert wurde.

S-Bahn-Linie
Seitdem ist Köln/Bonn der Abflugort für Pauschalreisen, Geschäftsreisende und Weltenbummler aller Art. Als 1996 nach einem Brand von Styroporplatten zwei von drei Terminals am Düsseldorfer Flughafen Düsseldorf ausbrannten und abgerissen werden mussten, versuchte Köln, den größeren Flughafen in Düsseldorf mit seinen Passagierzahlen zu überholen. Im Jahr 2000 wurde ein zweites Abfertigungsterminal gebaut. Frank Schätzing beschreibt den Flughafen in seinem Roman „Lautlos“ so: „An der Kopfseite ist der eigentliche Airport, Autobahnzubringer, Terminal … das Airport-Building ist ihr Kopf, und ihre Augen geben die Position des alten Terminals an. Die lange Landebahn beginnt gleich neben dem linken Ohr. Das neue Terminal hingegen ist das linke Ohr. Darum haben Sie eine phantastische Sicht von hier, Sie sehen die Vögel kurz vor der Bodenberührung, es ist toll !“

Ich entferne mich wieder von der Landebahn, und nach einer satten Links- und Rechtskurve sieht die Wahner Heide wieder aus, als habe es nie einen Flughafen gegeben, so sehr dominiert die Natur. Drei bis vier Kilometer fahre ich immer geradeaus bis zur nächsten Ampel. Wenn ich dort zweimal links führe, würde ich genau auf dem Autobahnzubringer landen, den Frank Schätzing beschrieben hat.

Ich fahre aber an der Ampel geradeaus und bin für mich auf einem eigenen Fahrradweg alleine. Ich passiere das letzte Stück Wahner Heide, ich knicke nach rechts ab und radele an der S-Bahn-Linie entlang, dann wieder links, ungestört, wo ich über eine Brücke die Bahnlinie überquere.

Diese S-Bahn-Linie, die gleichzeitig als ICE-Flughafenzubringer fungiert, brach wie ein von langer Hand geplanter Brachialakt über die Wahner Heide hinein. Das geschah in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung, als die Technologie der Hochgeschwindigkeitszüge Fahrt aufnahm. Ein eigener Bahnzubringer des Flughafens war stets an den Kosten gescheitert, die weder die Stadt Köln noch das Land NRW noch der Flughafen noch die Bahn bezahlen wollten. In dieser Zeit hatten die beiden deutschen Staaten gejubelt und sich wieder vereinigt, die Bundesregierung zog von Bonn nach Berlin um, dafür wurde Bonn mit reichlich Geld entschädigt. Eines der Vorhaben war der ICE-Flughafenzubringer, wofür die Bundesregierung aus dem Bonn-Berlin-Gesetz sagenhafte 255 Millionen Euro spendierte. Das machte hochgradig Sinn, den Flugverkehr auf die Schiene zu verlagern, so dass Kurzstreckenflüge – hier: von Köln/Bonn nach Frankfurt – auf die umweltfreundlichere Schiene verlagert wurden. So konnten die Hochgeschwindigskeitszüge in einem Rutsch von dem einen ICE-Bahnhof in Köln zum nächsten ICE-Bahnhof des Frankfurter Flughafens rasen.

achtstöckiger Wohnblock in Köln-Porz-Urbach
Weniger sinnhaft war das Verhalten von Umweltaktivisten, bevor die Eisenbahntrasse gebaut wurde. Sie wollten ihre heimische Scholle der Wahner Heide mit aller Macht verteidigen, Anfang der 1990er Jahre besetzten sie den Wald, sie ketteten sich an Bäume an, Polizisten mussten engreifen, damit die Abholzungsarbeiten begonnen werden konnten. Dabei blendeten sie freilich aus, dass Kurzstreckenflüge und Fluglärm wegfielen oder dass die CO2-Bilanz entlastet wurde.

Mit der anschließenden, etwas verworrenen Wegeführung springe ich auf den Roman „Lautlos“ von Frank Schätzing zurück. Neben dem Flughafen Köln/Bonn spielt ein wesentlicher Handlungsstrang zwischen Industriegebieten und Wohngebieten von Köln-Porz-Urbach. Schätzing beschreibt die amorphe Häuseransammlung in Porz-Urbach ziemlich genau, wie ich es auf meinem Rennrad erlebe.

„Porz-Urbach, lasen sie auf dem Ortsschild … es war eine Siedlung. Nur Ein- und Mehrfamilienhäuser, eine Kirche, ein kleiner Friedhof, kaum Geschäfte und Kneipen … mehrere Male wurden sie von Einbahnstraßen zur Umkehr gezwungen. Kaum jemand war unterwegs. Dann plötzlich, ohne es recht zu merken, hatten sie die Autobahn unterquert … sie bogen in eine schmale Straße ein, die nach wenigen hundert Metern abknickte. Flachbauten erstreckten sich dort, offenbar ein Industriebgebiet. Ein mehrere Meter hohes Gitter umgab ein größeres Areal.“

Ich glaube, die Halle mit der Wellblechfassade aus dem Roman wieder zu erkennen, genau weiß ich es aber nicht. Gepanzerte Bundeswehrfahrzeuge mit grün-braunem Tarnanstrich parken vor der Halle, ein Mast, ohne Antenne, ohne scheinbare Funktion, ragt steil nach oben. Der siebenhundert Seiten starke Wälzer von Frank Schätzing hatte mich seiner Zeit gefesselt. Im Kern geht es um einen Terroranschlag auf den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, als dieser im Jahr 1999 auf dem Köln-Bonner-Flughafen landete, um am Weltwirtschaftsgipfel G7 teilzunehmen. „Lautlos“, so der Titel des Romans, - über einen Laserstrahl – planten Terroristen aus dem Kosovo den Terroranschlag. Luftlinie zwei Kilometer vom Flughafen, stand fiktiv in dieser Lagerhalle eine Laserkanone, die über eine Röhre aus Yttrium-Aluminium-Granulat einen Laserstrahl in die Höhe auf einen Spiegel befördern sollte, der dann auf einen weiteren Spiegel auf dem Flughafengelände treffen sollte, um dann den Körper des amerikanischen Präsidenten auf  der Gangway des gelandeten Flugzeugs zu durchbohren. Die Techonologie ist real, der Terroranschlag blieb Fiktion, denn in dem Buch von Frank Schätzing ging alles gut, da ein Scharfschütze auf dem Köln-Bonner-Flughafen in letzter Millisekunde den einen Spiegel in Kleinteile zerschoß.

Wirtschaftsweg in den Feldern
Ich verlasse Porz-Urbach in der umgekehrten Richtung wie in dem Roman von Frank Schätzing. Aus dem Industriegebiete fahre ich über einen schmalen Weg, dem Wiesenweg, immer geradeaus. Nach zwei Kilometern biege ich nach rechts auf die Friedensstraße ab, wo die Häuserblocks bis zu fünfzehn Stockwerke in die Höhe wachsen. Nun bin ich mittendrin in den unsystematisch wuchernden Außenbezirken von Köln, wo sich ganz viel Menschen auf wenige Quadratmeter drängeln, und dennoch sind die Straßen menschenleer, nicht anders als im Roman von Frank Schätzing. Eine Bäckerei an der Straßenecke, Rasenflächen spannen sich auf, Glasbausteine zerteilen das Einheitsweiß von Mietskasernen, die Fassaden der Wohnblocks sind so schnörkellos glatt wie die Balkone aus Fertigbauteilen.

An der großen Kreuzung mit der Bundesstraße 8 fahre ich weiter geradeaus, diesmal grenzt die Wohnblockarchitektur an Felder, die aus dem Dämmerschlaf des Winters noch nicht aufgeweckt sind. Einhundert Meter weiter habe ich dann die urbane Zone der Stadt Köln verlassen, und ich fahre durch eine Agrarlandschaft, die mehr durch extensive Anbaumethoden genutzt wird und wo mich die Größe der Aussiedlerhöfe an Farmer in den USA erinnert.

Über eine Brücke überquere ich die Bahnstrecke von Porz nach Wahn, mit der, 1859 eröffnet, die Industrialisierung der südlichen Kölner Außenbereiche einsetzte. Mit der Eisenbahn kam die Seilerei Felten & Guillaume, die später einer der weltweit führenden Elektrokonzernen wurde. Vor mehr als 100 Jahren gründete der belgische Konzern „Société Anonyme des Glaces Nationales Belges“ die Spiegelglaswerke Germania am Rhein, aus der die späteren Vereinigten Glaswerke entstanden.

Nun radele ich am Rande des Industriegebietes der Glaswerke entlang, an dessen Zaun ich noch keine Hektik und Taktung von Produktionsanlagen erkennen kann, sondern eine beschauliche Ruhe, die über den Wirtschaftsweg bis nach Köln-Zündorf hinein reicht. Dort fahre ich parallel zur Straßenbahnlinie 7 bis zur Endhaltestelle, ich fahre kurz rechts, kurz links, bis ich wieder mitten in den Feldern gelandet bin, dort immer geradeaus, dann rechts, ein Stück quer durch Zündorf, dann wieder links auf die Hauptstraße geradeaus in Richtung Köln-Porz-Langel.

optischer Telegraph in Köln-Porz-Zündorf
Langsam überschattet die petrochemische Industrie in Wesseling in der Ferne die Felder, die sich außerdem gegen wild wuchernde Neubaugebiete wehren müssen, die so identitätslos nebeneinander kopiert sind, dass ich in den Häusern niemals wohnen möchte. Aber auf der anderen Straßenseite schälen sie sich dann doch heraus, alten und schöne Strukturen neben neuen Strukturen, klar und deutlich. Platt und stumpf überschaut der Turm des optischen Telegrafen den Kölner Stadtrand. Er entstand in den Urzeiten der Telekommunikation, als es noch kein Telefonnetz gab, wie wir es heute kennen. Es war wie so oft bei Erfindungen: sie gelangten zur Marktreife, weil die Militärstrategen sie brauchten. Nach dem Wiener Kongreß 1815 wurde das Rheinland Preußen zugeschlagen, und die Preußischen Militärs brauchten eine Nachrichtenverbindung von Berlin nach Koblenz. Was die Mechanik der Tipperei auf den Tasten betraf, war die Erfindung gar nicht so weit weg von der heutigen SMS. Auf dem Morse-Telegrafen wurde getippt, und die Nachrichten wurden per Lichtsignal übertragen. Insgesamt 62 solcher optischen Telegrafen verbanden Berlin mit Koblenz, von Turm zu Turm wurden Lichtsignale gesendet, der vorherige stand bei der Kirche St. Pantaleon in der Kölner Innenstadt, der nächste auf dem höchsten Punkt der Wahner Heide, dem Telegrafenberg, von dort aus weiter über das Siebengebirge.

Ich fahre weiter zum Rhein, erst nach Langel hinein, dann folge ich schräg rechts der Fahrradbeschilderung nach Lülsdorf. Nachdem ich mich am Ortskern von Langel vorbei gemogelt habe, bin ich angekommen auf dem Damm zum Rhein, der sich auf der Höhe des sogenannten Langeler Bogens krümmt. Auf Hinweistafeln kann ich nachlesen, dass hier ein sogenanntes Retentions- oder auf Deutsch: Rückhaltebecken gebaut wurde. Die Verantwortlichen glauben und hoffen, dass sie Hochwasser aufhalten können, wenn solch ein Retentionsbecken geflutet wird, so dass in den nachfolgenden Rheinabschnitten das Hochwasser sinkt.

Vom Oberrhein bis an die Nordsee: länderübergreifend haben die Verantwortlichen erkannt, dass die isolierte Betrachtung von Retentionsbecken keine Wirkung zeigt, sondern das Gesamtkonzept. Daher versuchen die Kommunen mit aller Kraft, den Hochwasserschutz voran zu treiben. Das birgt allerdings Konfliktpotenzial, weil vom Prinzip her nur verlagert wird, wer die nassen Füße bekommt.

Myriameterstein in Niederkassel-Lülsdorf
Zwei Jahre hatten sich die betroffenen Bürger durch die Instanzen geklagt, da bei der Flutung Wohngebiete in Lülsdorf und Langel betroffen wären, während sich in Köln die Hochwassersituation verbessern würde. So mussten die Planungen mehrfach überarbeitet werden. Schließlich erhöhte man die Pegelhöhe auf 10,90 Meter, ab wann die Retentionsklappen geöffnet werden sollten und der Polder geflutet werden sollten. Auch das Nutzungsziel des Retentionsraumes wurde umformuliert. Das Hochwasserschutzkonzept betont nun, dass nicht nur die Kölner Altstadt geschützt wird, sondern rund zwölf Prozent der gesamten Kölner Stadtfläche ab dem genannten Pegel von 10,90 Meter. Ein solches Rheinhochwasser hat es übrigens erst einmal in der gesamten Hochwassergeschichte gegeben, das war ein Pegel von 13,55 Meter im Jahr 1784. Welche Urgewalten an Wasser bei solch einem Pegel ihre Zerstörungskraft entwickeln, daran wagt wahrscheinlich niemand zu denken. Das letzte große Rheinhochwasser hatte im Jahr 1995 einen Pegel von 10,63 Meter.

Ein Stück weit genieße ich die Gestaltung des Deiches, als ich eine Wegemarkierung mit der vornehmen Bezeichnung „Myriameterstein“ passiere. Der liegt mitten auf dem Deich kurz vor Lülsdorf, und so manche geschichtsinteressierte Bürger haben sich mächtig Mühe gemacht, den Stein aufzupolieren. Der Stein datiert aus einer Zeit, als das neu entstandene deutsche Reich den Rhein von Basel bis Rotterdam vermessen ließ. Alle zehn Kilometer wurden solche Steine aufgestellt, und Spaziergänger hatten den Stein vor dreizehn Jahren in diesem Rheinabschnitt am Ufer gefunden. In sauberer Ordnung kann ich nun nachlesen, dass es bis auf die Nachkommastelle genau fünfhundert Kilometer bis Basel sind, bis Rotterdam sind es 384 Kilometer.

Den Rückweg bis Bonn fahre ich stets am Rhein entlang, an Lülsdorf vorbei, ich umkurve das Industrieareal der Evonik-Werke, in Niederkassel folge ich der Beschilderung zu Rhein zurück, über den Deich gelange ich bis nach Mondorf, von dort aus am Fischereimuseum vorbei bis nach Bergheim zur Siegfähre. Wenn ich es eiliger habe, kann ich in Mondorf auch über die Provinzialstraße wechseln auf die Landstraße L269 in Richtung Bonn. Ab der Siegbrücke sind die beiden Streckenvarianten wieder gleich. Über Schwarz-Rheindorf und Bonn-Beuel geht es dann wieder zum Alten Zoll zurück.

Strecke (63 Kilometer):


Höhenprofil:


Donnerstag, 5. März 2015

mit dem Rennrad nach Bad Neuenahr und Dernau



Eärzbär in Wachtberg-Pech
Eine Woche nach Karneval sind Frohsinn und Geselligkeit verflogen. In Wachtberg-Pech ist der losgelassene Bär zahm, er kauert über dem Eingang der Gaststätte Küpper. In sich zusammengesunken, ruht er über dem Schild „Winterquartier Eärzbär“ in sich. Im Gemeindesaal hatte er durchgefeiert, durchgetanzt, durchgezecht, er hatte im Mittelpunkt des Karnevalstreibens gestanden. Die Ausprägungen des rheinischen Karnevals mögen eigenartig sein, stets lustig, ausgelassen, einfallsreich in vielen Facetten, so wie das Temperament des Rheinländers. Am Rosenmontag rückt der Eärzbär – oder auf Hochdeutsch: Erbsenbär - in Wachtberg-Pech in den Mittelpunkt des Geschehens. Brüllend und bettelnd krabbelt er auf allen Vieren mit Helfern und Musikanten durch den Ort. Nur durch wohltätige Gaben wie Bier oder Suppe ist er zu besänftigen. Der Karnevalsbrauch hat mit dem Abschied vom Winter zu tun: wenn der Bär aus der Höhle und die Erbsen aus der Schote kommen, wird es wieder warm, so die historische Ableitung.

Eine Woche nach Karneval trotze ich den einstelligen Temperaturen und schwinge mich auf mein Rennrad. Der Wind pustet auf den Höhen, hier und da reißen Streifen von Himmelsblau die betongraue Wolkendecke auf, unter meiner Fahrradbekleidung habe ich mich eingemummelt in einen Schal und einen dicken Winterpullover. Bonn, Alter Zoll, den Rhein entlang, Plittersdorf, Godesberg, Wachtberg-Pech, an der nächsten Ampel biege ich auf separatem Wirtschaftswege  nach links in Richtung Bad Neuenahr ab. Dort muss ich Farbe bekennen, denn ich habe Winterspeck angesammelt, und die Steigung zieht fulminant an. Irgendwie klappt es, ohne dass ich außer Atem gerate, gleichmäßig arbeite ich mich die Steigung hinauf, ich bin wieder drin im ambitionierten Rhythmus des Rennradfahrens. Das Landschaftserlebnis baut sich auf, als der Sträucherbewuchs aufhört. Die Straße kreist um den Wachtberg, das Siebengebirge ist zum Greifen nah, ich halte inne auf dem Wachtberg, das ist mit 259 Metern nicht ganz der höchste Berg, der der Gemeinde 1969 während der kommunalen Neuordnung den Namen gab.

Kurz vor dem Wachtberg streife ich das Ehrenmal, das ist eine etwas aufwändiger gestaltete Kriegsgräbergedenkstätte, bestehend aus jede Menge Gedenksteine und einer kleinen Kapelle.Nachdem ich mich von dem phänomenalen Ausblick auf das Siebengebirge habe berauschen lassen, geht es zurück zur Hauptstraße und dann weiter nach Berkum. Vom Prinzip her geht es immer geradeaus, vorbei an einem Traktor aus Stroh, über einen Kreisverkehr, an einem Einkaufszentrum vorbei, ich passiere die überdimensionale Kugel, die zum Fraunhofer-Institut gehört, dann geht es kurzer Hand wieder hinaus aus Berkum.

Kapelle in Werthhoven, erbaut 898
Dahinter, wage ich einen kurzen Abstecher durch Werthhoven, um eine einzige Zahl zu bestaunen. Ich biege von der Umgehungsstraße ab, schlängele mich durch den gedrungenen Ortskern, und nach einer Rechtskurve hebt sich eine kleine, charmante Kirche in prallem Weiß von dem spätwinterlichen Grün einer Wiese ab. Über der schweren, hölzernen Eingangstüre der Kirche St. Jakob entdecke ich die Zahl: die Buchstaben- und Ziffernfolge A. 898 D. dokumentiert das stolze Alter der Kirche. Die Jahreszahl hat es in sich, denn 898 schenkte König Zwentibold, das war der König von Lotharingien, diese Kirche samt einem karolingischen Gutshof dem Stift in Essen. Jahrhunderte und Jahrtausende haben die Kirche nur wenig verändert, und das ist tatsächlich einzigartig im Rheinland. Der Aachener Dom, gegründet 796, ist älter, ebenso die Grabeskapelle „ad sanctos gereos“, um 600, daraus wurde St. Gereon in Köln. Trotz der vielfältigen romanischen Kirchenbaukunst im Rheinland, fallen mir nicht allzu viele Kirchen ein, deren ungefährer Ursprungszustand sich erhalten hat und die auf eine noch längere Geschichte zurückblicken können.

Im Schatten der Jahreszahl 898 radele ich weiter. Noch geht es bergabwärts, und hinter den letzten Häusern von Werthhoven biege ich nach rechts auf die Umgehungsstraße ab. Dem Straßenschild nach Bad Neuenahr  haftet etwas magisches an, seine Deutlichkeit verwischt in der Spätwinterstimmung. Die Hänge steigen an, geradeaus, nach rechts, in meinem Rücken, egal, in welche Richtung ich mich wende. Nun muss ich mächtig treten, obschon die Länge des Anstiegs überschaubar ist.

Es sind zwei Aussichtspunkte, die die Schönheit dieser Tour ausmachen. Nachdem ich die letzten Höhenmeter gemeistert habe, überwältigt mich vom Scheitelpunkt der Kreisstraße K58 ein genialer Rundumblick. In meinem Rücken verabschieden sich die korpulenten Gipfel des Siebengebirges, die weiße, futuristische Kugel des Weltraumradars von Berkum habe ich hinter mich gelassen, nun fasziniert mich der Weitblick nach vorne. Bis in die tiefen Kerben des Ahrtals kann ich hineinspähen, linkerhand türmt sich vor dem Tal der massive Bergkegel der Landskron auf, in der Ferne bäumt sich entschlossen die Mittelgebirgslandschaft der Eifel auf. Rechterhand laufen all diese Kurven und Wellen im Landschaftprofil friedlich aus, wo die Euskirchener Börde in die Niederrheinische Tiefebene unterschiedslos übergeht.



Ausblicke vom Scheitelpunkt der Kreisstraße K58
Landskrone (oben)
Blick ins Ahrtal (darunter)
In Birresdorf donnert die Straße mit 10% Gefälle ins Tal hinunter, so dass ich quer durch den Ort mächtig abbremsen muss. Hinter dem Ortsende darf ich ein Stück wieder bergauf treten, bevor ich mich über Nierendorf und Gimmingen nur noch bergabwärts tragen lassen kann. Beide, Nierendorf und Gimmingen, sind alt, etwas mehr als eintausend Jahre, was damit zusammenhängt, dass viele deutschen Könige, vom Rhein kommend, ab dem 11. Jahrhundert über die Landskron nach Aachen zur Kaiserkrönung ritten. Eine befestigte Straße führte über dieses Seitental der Ahr, die im Mttelalter als AFH – oder in Langform „Aachen-Frankfurter-Heerstraße“ – strategische Bedeutung erlangte.

Ich fahre mitten durch Heppingen und biege dann nach rechts auf die Bundesstraße B266 ab.  Dass es die Gegenwart, einen Kilometer weiter, mit dem Apollinaris-Werk nicht allzu gut meint, dass läßt sich an Kleinigkeiten ablesen. Der Schriftzug der einst noblen Mineralwassermarke ist demontiert, die Herren von Coca-Cola müssen den Betrieb erst herunter fahren. Ob sie die Marke „Apollinaris – The Queen of Table Waters“ wieder ins Rampenlicht von früher schieben können, als die Marke zum Hoflieferant der Queen von England wurde, erscheint höchst ungewiss. Da die Absatzmärkte im Ausland weggebrochen sind, ist das Werk nicht ausgelastet und von Coca-Cola aufgekauft worden.

6 Kilometer bis Bad Neuenahr
An der nächsten großen Kreuzung biege ich nach links ab. Nachdem ich die Bahnschranken passiert habe, bin ich in Bad Neuenahr angekommen. Diesmal nehme ich nicht die gerade Strecke über die Hauptstraße nach Ahrweiler, sondern ich fahre quer durch die Fußgängerzone an die Ahr. Dort spüre ich schnell, dass das Kurleben und der Kurbetrieb die Stadt prägt. Schräg links verlasse ich die Hauptstraße in die Fußgängerzone. Der „Alte Markt“ sieht gar nicht so alt aus, wie sein Name verspricht, denn, umgeben von Einzelhandelsgeschäften, wurde die St. Willibrord-Kirche aus dem 17. Jahrhundert im Jahr 1904 einfach mal so abgerissen und durch eine neugotische Kapelle ersetzt. Dabei sieht die Kombination aus Fensterbögen, die in die Höhe streben, und dem kleinen Schieferdach, das die Kapelle in spielzeugartige Dimensionen zurecht weist, gar nicht mal schlecht aus. An der nächsten Seitenstraße biege ich links ab, und ich wurstele mich vorbei an Modeläden, Supermärkten, Reklameschildern und Schaufensterauslagen, die nicht soviel anders aussehen wie sonstwo in der Welt.

Das ändert sich schlagartig, als ich ein Stück weiter geradeaus die Ahr erreicht habe. In ihrem breiten Flußbett plätschert die Ahr gemütlich vor sich hin. Wuchtig, ausladend, verschachtelt, verziert mit Säulen und Art-Deko-Elementen begegnet mir die Fassade des Steigenberger Hotels am anderen Ahrufer.

Bad Neuenahr mag eine Ausnahmeerscheinung unter den Bäderstädten sein, von denen sich so manche mit dem Titel „Bad“ im Ortsnamen schmücken, aber keinen einzigen Kurgast beherbergen. Begonnen hatte alles mit einem verzweifelten Winzer. Nachdem der Winzer Georg Kreuzberg 1852 einen Weinberg gepflanzt hatte, der vor sich her kümmerte, bohrte er ins Erdreich hinein und stieß auf eine Mineralwasserquelle, die mit ihren Spurenelementen an Magnesium, Kalzium, Sulfaten, Chloriden, Jodiden, Flouriden alles enthielt, um gesund durchs Leben gehen zu können. Man bohrte weiter nach Heilquellen, man wurde fündig und gewann hochrangige Prominenz, die sich mit den heilenden Wassern viel Gesundheit und ein langes Leben erhofften. Georg Kreuzberg schulte um vom Winzer zum Bäder-Unternehmer. Es war Prinzessin Augusta von Preußen, die Ehefrau des späteren Kaisers Wilhelm I., die 1858 zwei Heilquellen in der Nähe der Ahr festlich einweihte, davon erhielt die eine Quelle ihren Namen „Augusta-Quelle“, die andere den Namen ihrer Schwiegertochter „Victoria-Quelle“.

Steigenberger Hotel in Bad Neuenahr
In den Folgejahren fand der Bäder-Unternehmer Georg Kreuzberg den Dreh heraus, wie sich aus den Heilquellen mehr machen ließ. Schon 1860 wurde ein Kurhotel mit einhundert Betten gebaut, das sich noch bescheiden „Der Gasthof im Bade Neuenahr“ nannte. Ein paar hundert Kurgäste zählte man damals. 1861 erbohrte man ein Loch für einen Geysir, dessen Fontäne in zwanzig Meter Höhe schoß. 1862 baute man ein Badehaus, weitere Kurhotels folgten, 1899 wurden das Thermal-Badehaus, der Ostbau und das Kurhaus gebaut.

Seit seiner Schrift, die ein Dr. Weidgen 1859 veröffentlichte, haben sich die Krankheitsbilder geändert. Damals waren es chronische Heiserkeit, Bronchialkatarrh, Erkrankungen an Lunge und Tuberkulose, Gicht, Rheumatismus, Gallensteine, Anschwellung der Leber, Krankheiten des Uterus, Hypochondrie oder Ekzeme. Heute sind es Erkrankungen an Wirbelsäulen und Gelenken, Stoffwechsel und Diabetes, Rheuma oder Krebs. Der Kurbetrieb wird so zum Spiegelbild des medizinischen Fortschritts. Krankheiten werden den Menschen stets begleiten, die Medizin hält mit Medikamenten und anderen Behandlungen dagegen. Mit den Einflüssen aus der Umwelt, dem Arbeitsplatz und den menschlichen Gewohnheiten verändern sich die Krankheitsbilder: manche werden seltener, andere bleiben, neue Arten von Krankheiten kommen dazu. Es gehört vielleicht zu den Merkwürdigkeiten der Stadtgeschichte, dass Bad Neuenahr mit Krankheiten an Größe gewonnen hat. 

Die Ahr entlang, nimmt mein Rennrad die Fahrt auf. Vom Fußgängerweg durch eine Baumallee getrennt, macht die Fahrt auf dem großzügigen Fahrradweg richtig Spaß. Kurgäste spazieren, flanieren, bummeln, entspannen sich, lassen es sich rund um den Kurpark gut gehen. Nun bewege ich mich ungefähr an dem Herzstück dieses quirligen Städtchens vorbei, das ist der Kurpark jenseits der Ahr. Bei der Gestaltung des Parks hatte der Preußische Adel mitgemischt. Mit seinen Beziehungen hatte Georg Kreuzberg den Gartenarchitekten Peter Josef Lenné geholt, er war ein Meister seines Faches, denn er hatte für die Preußischen Könige den Schlosspark von Sanssouci in Potsdam geplant.

So war 1881 in einem Führer durch das Ahrtal nachzulesen: “ Am Kurhaus  im Kurgarten sprudeln die beiden Brunnen in reichstem Maße. Prachtvolle Alleen nebst überdachten Spaziergängen, die mit lieblichen Blumenbeeten bekränzt sind, umschließen das Ganze. Eine gut besetzte Kurkapelle trägt zur Aufheiterung der Gemütsstimmung bei."

Kreuzwegstation bei Walporzheim
Von der ursprünglichen Gartengestaltung aus dem Jahr 1858 findet sich nicht allzu viel wieder, denn der Kurgarten ist einige Male neu bepflanzt worden. Zu bestaunen gibt es anstatt dessen anderes: das ist zum einen die Ehrenrosengalerie, in dem Persönlichkeiten wie der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, die Fürstin Gabriele zu Sayn-Wittgenstein-Sayn, der Mainzer Karl Kardinal Lehmann mit Rosen geehrt wurden, oder den Kräutergarten, der nach den Schriften der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen angelegt wurde.

Der Radweg zieht sich fort, windet sich hier und da an Häuseransammlungen vorbei, bis er die Ahr auf einem breiten Teerweg begleitet. Je mehr ich mich Ahrweiler nähere, um so mehr passe ich auf. Diesmal möchte ich mich nicht durch die Fußgängerzone von Ahrweiler zwängen, sondern ich radele an Ahrweiler vorbei, indem ich der Fahrradbeschilderung in Richtung Walporzheim folge. Vor dem Ahrweiler Zentrum wende ich mich zunächst nach links. Ich überquere über eine Hängebrücke, die mit Stahlseilen gehalten wird, die Ahr, dann überquere ich nach rechts die Hauptstraße nach Ramersbach. Einhundert Meter radele ich im Zickzack durch Neubausiedlungen, dann öffnet sich freies Feld. Konsequent folge ich der Fahrradbeschilderung nach Walporzheim, Weinstöcke bedecken die Felder, das Tal beginnt sich zu verengen, in der Ferne fallen Steilhänge hinab ins Tal.

So ruhig und besinnlich wie der Kreuzweg plätschert die Landschaft daher. Ich fahre vorbei an der sechsten Kreuzwegstation. Ich kann Einblick nehmen in die Dramatik, bevor das grausame Verbrechen einer Kreuzigung vollbracht worden ist. Jesus drohte zusammenzubrechen, die Last des Kreuzes drückte, einsam waren die Menschen am Wegesrand, die Regungen von Mitleid zeigten. „Die Heilige Veronika trocknet das Angesicht Jesu ab“, so lese ich die Inschrift, hinterlegt von einem Relief, welches diese Szene aus dem Neuen Testament zeigt.

Gasthaus St. Peter in Walporzheim
Dieser Kreuzweg weckt seine eigene Geschichte wieder auf, er beginnt am östlichen Stadttor von Ahrweiler und endet auf dem Kalvarienberg. Zuerst war der Kreuzweg, dann kam das Kloster. Die sechste Station, auf der die Heilige Veronika auf die Bühne trat, besaß einen älteren Vorläufer, bevor der gesamte Kreuzweg 1627 saniert wurde. Die Geschichte der sechsten Station reicht zurück ins Jahr 1542, sie wurde zum musealen Besitz der Stadt Ahrweiler, solch ein Kreuzweg mit Elementen der Renaissance ist eine Seltenheit im Rheinland. Erst nach dem Kreuzweg kam das Kloster, das 1678 fertiggebaut wurde. Seit der Jahrhundertwende um 1900 hat hier Klosterorden der Ursulinen das Sagen, die Klosterschwestern betreiben ein Gymnasium und eine Realschule samt Internat.

Kurz darauf erreiche ich Walporzheim, indem ich auf die Hauptstraße nach links abbiege. Im Ortskern nennt sich auf der linken Seite das Gasthaus St. Peter mit der Jahreszahl 1246 stolz „das älteste Gasthaus der Eifel“. Seine Entstehungsgeschichte reicht sogar noch weiter zurück, bis ins 6. Jahrhundert. 1246 war schließlich das Jahr, in dem die Kölner Erzbischöfe das Gasthaus für ihre Zwecke entdeckten. Das Gasthaus ging in das Eigentum das Kölner Domkapitels über, und dort verkosteten die Geistlichen die Ahrweine. Der weißgestrichene Bau mit der namensgebenden Petrusstatue in der Nische über dem Eingang beeindruckt, nicht nur mit den Fensterläden, die in rot-weiße Dreiecke gefasst sind, sondern auch mit den Wortschöpfungen der Menüs auf der Speisekarte. Hier scheinen sich die hohen Künste des Kochens im Ahrtal versammelt zu haben. Die Speisekarte klingt wie eine Sonate im Konzertsaal: das Carpaccio vom Black Angus Rinderfilet ist garniert mit Grünpfeffer-Creme, der Seeteufel harmoniert mit asiatischen Gemüsenudeln, das Blutorangen-Sorbet ist eingetaucht in Rosé-Sekt, das Salzwiesen-Lammrücken verziert provencalisches Gemüse, den Rohmilchkäse gibt es vom Holzbrett, das Kokosnußparfait ist perfekt wie seine Wortherkunft aus Frankreich. All das kann man für 82 € verspeisen – mit sechs Gängen klingt das Menü gar nicht mal so teuer. Mir reicht die Vorstellung dieser kulinarischen Genüsse. Das treibt mich voran, und lautlos schleiche ich mich weg von diesem Gourmet-Tempel, der das Ahrtal mit seinen Genüssen in das rechte Licht rückt.

Felsen der Bunten Kuh mit Gasthaus
Unter der Bahnunterführung biege ich nach links auf die B266 ab, wo mich alsbald die tief in das Ahrtal eingegrabene Felsenlandschaft erwartet. Felswände ragen senkrecht hinauf, und auf diesem spektakulärsten Teil der Radtour kommt es mir sogar wie ein Wunder vor, dass sich das Gasthaus „Bunte Kuh“ inmitten dieses Felsenmeeres behauptet, unversehrt, unbeschädigt und ohne Steinschlag. Kühe im Ahrtal ? Und dazu noch eine bunte Kuh ? Vielleicht sogar lila gestrichen wie die Milka-Kuh aus der Werbung ? Die Erklärung ist im Prinzip einfach: derjenige Felsvorsprung, der sich in der Höhe zum Gasthaus „Bunte Kuh“ neigt, soll die Gestalt eines Kuhkopfes haben. Dass dieser Kuhkopf zudem noch bunt angemalt sein soll, dazu gehört einiges an Phantasie, dass der schräge Einfall des Sonnenlichtes die Felspartien in ein glitzerndes Farbspektrum verwandelt. Einer der Erklärungsversuche, wie die Bunte Kuh zu ihrem Namen kam, stammt aus der Napoleonischen Besatzungszeit. Im Gasthaus hatten die Soldaten reichlich Ahrwein getrunken, der ihnen auch vorzüglich schmeckte. Diese Wertschätzung kommentierten sie mit dem Satz: „Le vin a bon goût“. Der Wirt, des Französischen nicht mächtig, wusste mit „bon goût“ nichts anzufangen.  Kurzer Hand verdrehte er einige Buchstaben um und machte daraus „bunte Kuh“.

Noch einmal waren es Napoleons Truppen, die ein paar Kilometer weiter, in Marienthal, einen Blickfang von morbider Schönheit hinterlassen haben. Mit meinem Rennrad fahre ich an besten Steillagen vorbei, die Böden aus Löß und Lehm haben die klingende Namen von Weingütern geschaffen haben. Klostergarten und Stiftsberg, Rosenberg und Jesuitengarten, die Weinlagen führen um das Seitental herum, und wenn ich zur Ortsmitte von Marienthal schaue, stelle ich zufrieden fest, wie schön doch Ruinen sein können. Efeu rankt sich um die Vorderfront, die hohen Fenster greifen ins Leere, das Dach ist amputiert, im Zeitalter der Säkularisation hatten die Französischen Truppen ganze Arbeit geleistet, Kirchen zu entblößen, zweck zu entfremden oder ganz nieder zureißen. Die Wurzeln von Marienthal reichen ins Mittelalter zurück, 1137 hatten die Grafen von Saffenburg ein Augustinerinnenkloster namens „Mariae vallis“ gestiftet. In der Napoleonischen Ära gingen nun die Franzosen mit allem rabiat um, was der Kirche gehörte. 1811 wurde mit dem Abbruch begonnen. Es ist den Preußen zu verdanken, dass dieses Stück Ruine stehen blieb, als sie Napoleon aus Deutschland vertrieben.






Dernau, Ausblicke über die Weinberge hinweg
in Richtung Rech (oben)
Tunnel zum Regierungsbunker (darunter)
Weinköniginnen (darunter)
direkter Blick auf Dernau (unten)
Ich fahre weiter nach Dernau. Der Blick trügt, dass ohne Touristen hier der Hund begraben zu sein scheint. Die Lokale haben entweder geschlossen oder sie sind menschenleer, doch dieses Bild wird sich mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen ändern. Und zu Herbstzeiten, wenn das eine Weinfest das nächste jagt, wird man hier bis auf die Straße Schlange stehen. Dernau beweist im übrigen, dass die Römer das Ahrtal besiedelt haben, denn 1934 grub man beim Bau des Kellers des Winzervereins auf Überreste eines römischen Gutshofes. Diese liegen im Ortskern, während ich mit unvermindertem Tempo die Hauptstraße passiere.

Hinter dem Ortsende von Dernau biege ich nach rechts ab, das Straßenschild weist nach Esch und steigt unvermittelt an. Dort strebe ich auf den zweiten Aussichtspunkt zu, der die Schönheit dieser Tour ausmacht. Die Steigung hat es in sich, steil schraubt sie sich in die Weinberge hoch. Ich halte dagegen, indem meine Beine ihr Pensum abarbeiten. Die wechselnden Ausblicke machen die Faszination des Anstiegs aus. Zunächst ist es das Ahrtal, das sich in einen engen Schlauch in Richtung Rech hinein preßt, dann ist es ein Aussichtsturm auf der anderen Seite der Ahr, dann ist es die Öffnung zum Regierungsbunker, der mit Sperrholzplatten verrammelt ist und trotz aller Geheimniskrämerei eigentlich nicht zu übersehen ist.

Autobahn A61 vor Gelsdorf
Er ist ein Relikt des Kalten Krieges. Ich erkenne die tunnelartige Konstruktion, wo tatsächlich 1910 der Bau einer Eisenbahntrasse aus dem Ahrtal nach Rheinbach und Liblar begonnen wurde, um hauptsächlich Braunkohle zu transportieren. Später, ab 1914, rückte die militärstrategische Bedeutung in den Vordergrund. Der Tunnel wurde gebaut, doch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verboten die Alliierten den Weiterbau. Zu Zeiten des Kalten Krieges gab es zwischen den NATO-Staaten ein Abkommen, dass ein Ausweichsitze der Regierungen bereitzuhalten waren, wenn der Verteidigungsfall ausgerufen worden wäre. In Zeiten atomarer Bedrohung wurde der Regierungssitz unter die Erde verlegt, wozu das vorhandene Tunnelsystem aus der Zeit des Ersten Weltkriegs bestens geeignet war. Das war Top-secret, wie neun Jahre lang unter der Erde gebuddelt wurde, von 1962 bis 1971. 5,7 Milliarden Mark verschlang der unterirdische Bunker, über insgesamt siebzehn Kilometer erstreckte sich das unterirdische Tunnelsystem, das reichte nicht ganz bis zur Hardthöhe, aber immerhin: der Bundeskanzler hätte dort seine 3.000 wichtigsten Mitstreiter aus seiner Regierung und den Ministerien unterbringen können, dreißig Tage lang hätte diese Besatzung bei einem atomaren Ernstfall mit dem Proviant von Fertig-Nudeln, Leberwurst aus der Dose oder abgepackter Salami überleben können. Doch diesen Fall hätte ohnehin niemand zu denken gewagt.

Bäume und Wald lösen die Weinberge ab, während der Anstieg nicht nachlässt. Mit zunehmenden Höhenmetern legt die Schönheit dieses Ausblicks nochmals zu: nach einer 360 Grad-Kurve habe ich die volle Sicht auf das Ahrtal mit einem Postkartenblick auf Dernau, dessen Häuser ganz unten im Ahrtal nun so klein wie Spielzeug aussehen. Ich fahre weiter, der Anstieg dauert noch ein Stückchen an, und nun verschwinde ich aus dem Ahrtal in die Grafschaft. Esch ist der erste Ort in diesem künstlichen Gebilde der Grafschaft, wo die Mittelgebirgsränder der Eifel auslaufen. Seicht kann ich mich den Berg hinunter rollen lassen, in Esch halte ich mich rechts, dann folgen die Ortsteile Holzweiler, Vettelhoven und Gelsdorf.

Den Wind im Rücken, lasse ich mich zu meinem Ausgangspunkt zurück treiben. Ich spule die restlichen Orte Meckenheim und Witterschlick wie in einem Akt der Routine herunter. Ich folge der Bundesstraße B56 bis in die Bonner Innenstadt zum Alten Zoll.

Strecke (73 Kilometer):


Höhenprofil: