Montag, 11. Mai 2015

mit dem Rennrad nach Neunkirchen-Seelscheid

Cäsarius von Heisterbach war ein eifriger Chronist. Nachdem er im Jahr 1199 Mönch im Kloster Heisterbach geworden war, hielt er auf Zetteln als das fest, was er täglich beobachtete. Als Novizenmeister, das war der oberste Lehrbeauftragte des Klosters, sammelte er zwanzig Jahre lang Wunder und Geschichten seiner Zeit, wobei er nicht nur das Klosterleben aufschrieb, sondern auch reiste, nach Aachen, in die Eifel, an die Mosel, nach Hessen oder in die Niederlande, um mit offenen Augen zu notieren, was außerhalb der Klosterwände geschah.

Der Sprache der Gelehrten und der Kirche entsprechend, erschien um 1220 sein Hauptwerk auf Lateinisch, das waren fünf dicke Bände.  Die „dialogus miraculorum“ revolutionierten nicht direkt das mittelalterliche Denken, da dieses in einem strengen Einheitsdenken sich auf Gott als den Ursprung der letzten Dinge beziehen musste. Aber immerhin: Cäsarius von Heisterbach schuf neue Erzählformen, indem er die fünf dicken Bände als Dialog abgefasste. Mönch und Novizenmeister redeten im Dialog miteinander, sie philosophierten über die letzten Dinge, sie vermittelten Grundsatzdenken zur Beichte, Sünden, Tugenden oder auch dem Tod. Cäsarius von Heisterbach reicherte diese Dialoge mit Wundererzählungen an, indem er die Bedeutung von Alltagsbegebenheiten unterstrich, den Kern von Wundern zu entdecken suchte, die dann ihren Bezug in der Bibel fanden.

Vom Alten Zoll, den Rhein entlang, über die Konrad-Adenauer-Brücke, durch Oberkassel hindurch, fahre ich hinter dem Ortsende an der Ampel zur Autobahnauffahrt der A59 links. An zwei direkt hintereinander folgenden Kreisverkehren wird mir fast schwindlig, dann folge ich der abknickenden Vorfahrt nach rechts in Richtung Oberdollendorf. Sehr lange, bestimmt zwei bis drei Kilometer fahre ich geradeaus, dann an der großen Ampel links, wo ich prompt im Zentrum von Oberdollendorf angekommen bin. Unterhalb der Pfarrkirche St. Laurentius macht die Straße einen Bogen nach links, dann wieder nach rechts, wobei der steile Anstieg signalisiert, dass ich mich aus dem Rheintal hinaus bewege. steil nach oben zieht. Kurz darauf beginnt ein eigener Fahrradweg, während ich immer tiefer in das Siebengebirge eintauche.


Chorruine Heisterbach (oben links),
Denkmal Cäsarius von Heisterbach (oben rechts),
Cäsarius zu Füßen des heiligen Benedikt (Handschrift Universitätsbibliothek Düsseldorf; Quelle Wikipedia (unten)
Nach weiteren drei Kilometern mache ich einen Abstecher zum Kloster Heisterbach, wo ich kurz über das Klostergelände husche. Der einzige Überrest der Klosterkirche, die Chorruine, stammt noch aus dem 12. Jahrhundert, während die Klosterkirche nur noch in ihren Grundrissen dargestellt ist. Mauerreste und Streifen von Schieferplatten führen ins Mittelalter zurück, wie riesig die Dimensionen der einstigen Klosterkirche gewesen sein müssen. In direkter Nähe der Chorruine gelange ich dann zum Denkmal von Cäsarius von Heisterbach, welches ihm zu Ehren 1897 der Bergische Geschichtsverein im neugotischen Stil gebaut hat.

Ein kleines Stück spüre ich sein mystisches Gebaren über dem Klostergelände, das so weitläufig ist, dass sich ein eigenes Projekt mit der Umgestaltung der Klosterlandschaft befasst hat. Ich drehe zurück zur Landstraße, die mich weiter hinauf in das Siebengebirge führt. Der Anstieg ist vergleichsweise harmlos, wenn ich die übrigen Streckenvarianten durch das Siebengebirge betrachte. Ungefähr im fünf- oder sechstkleinsten Gang arbeite ich mich vorwärts, während ich einer satten Linkskurve folge und das Sonnenlicht im Buchenwald untertaucht. Kurz hinter der Einmündung zum Weilberg, habe ich den Scheitelpunkt erreicht, und die Fahrt geht schwungvoll bergab nach Heisterbacherrott. Zwischen der Häuserbebauung erspähe ich linkerhand gelegentlich eine wunderbare Fernsicht in die Köln-Bonner-Bucht.

Dann folgt Thomasberg, und geradeaus geht es erneut bergab nach Oberpleis. Im Tal fahre ich an der großen Ampel links, hinein in das Ortszentrum von Oberpleis, an dem Kreisverkehr vor der Kirche St. Pankratius halte ich mich  links. Einhundert Meter weiter fahre ich halbrechts, wo die Straße kurz den Berg hinunter donnert, bis sie hinter der nächsten Ampel geradeaus wiederum kräftig ansteigt. Geduldig darf ich treten, wobei die Stadtgrenze von Königswinter nach Hennef fließend ineinander übergeht. Auf der Höhe angekommen, gehört Pleiserhohn noch zu Königswinter, während Westerhausen Hennef zuzuordnen ist.

Ich biege rechts ab in die Ortsmitte von Westerhausen hinein, wo der verschlungene Straßenverlauf etwas ziellos verläuft, bis ich den Platz vor der kleinen und putzigen Kirche St. Michael erreiche. Dass Hennef die Stadt der 99 Dörfer ist, kann ich nicht nachzählen. Aber am Ortsende von Westerhausen blicke ich in die Weite. Ich biege links ab nach Lanzenbach, und nun verläuft die schmale Straße mehrere Kilometer über den Bergrücken. In das Hanfbachtal hinein und über das Hanfbachtal hinweg schaue ich auf Einzelgehöfte, Häuseransammlungen, die sich zu Dörfern verdichten oder wild dahin geschmissene weiße Punkte von Häusern, die keine geregelte Ordnung erkennen lassen. Mit dem temperamentvollen und kurvigen Verlauf ist diese Nebenstrecke wirklich klasse: eingebettet in dieses frische, frühlingshafte Grün der Wiesen, umhüllt von weißen Blüten, die in den Baumkronen von Schlehe oder Weißdorn emporsprießen, angereichert von der Blütenfülle in Obstgärten, radele ich an Bauernhöfen vorbei, davon sind einige Fachwerkbauten, die sich aus der strengen Geometrie der Fachwerkbalken zusammenfügen, andere sind Pferdehöfe, die mit einem Hufeisen über dem Hofeingang gekennzeichnet sind.




Gehöfte und Landschaftseindrücke zwischen Westerhausen und Hennef
Als ich diese Gehöfte in Hofen verlasse, verstehe ich, dass die 99 Dörfer auch eine Definitionsfrage sind: Häuser, Höfe, Weiler, Ansiedlungen, Ortschaften, Dörfer zerstreuen sich über Berg und Tal, unsichtbar verlaufen Ortsgrenzen in der Landschaft, wer kriegt da die richtige Zuordnung mit der richtigen Zählweise hin ? Jedenfalls klingen die 99 Dörfer schön, vermutlich hätten auch 80 oder 120 Dörfer heraus kommen können, je nachdem, wie sich die Strichliste des Zählenden gefüllt hätte.

Nun strebt die Straße steil bergabwärts ins Hanfbachtal hinunter. In Lanzenbach halte ich mich links, und ruhig und abseits jeglicher Zivilisation, geht es auf einem separaten Radweg drei Kilometer weiter nach Hennef, während der Hanfbach abseits seine Kurven zieht.

Eine Ampel, ein Bahnübergang, ein Kreisverkehr, die Autobahnauffahrt auf die A560, durch Hennef, das an dieser Stelle an einer chronischen Verkehrsverstopfung leidet, quäle ich mich hindurch. Von Ruhe und Verträumtheit der 99 Dörfer ist hier nichts mehr zu spüren.

Hinter der Siegbrücke biege ich an der großen Ampel nach links ab, wo ich in weitem Bogen das großzügige Anwesen des Schlosses Allner umkurve, wobei die Straße nach der Abzweigung in Richtung Seligenthal kräftig ansteigt. Der Anstieg ist giftig, windet sich in Serpentinen hoch, wobei die Mauern kaum einen Blick auf das Schloss freigeben. Das einzige, was ich erkenne, ist ein Bluff: Eigentumswohnungen im Stil von langweiligen Typenhäusern versperren den Blick auf das Schloss, welches, 1420 erstmals urkundlich erwähnt, unerkannt im unteren Bereich des Schloßparks schlummert.

Radwegkreuze bei Wolperath
Die Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet liegt zwar mehr als einhundert Kilometer entfernt, aber hier an der Sieg hatten es zwei Familien kurz vor der Jahrhundertwende um 1900, heimlich und abgelegen, geschafft, zwei Imperien von Kohle und Stahl strategisch miteinander zu verbinden. Wie beim Adel üblich, verschmolzen über Mitgiften und Hochzeiten die Konzerngebilde von Unternehmen. In Belgien waren in der Umgebung von Lüttich die Gebrüder Cockerill, die ursprünglich aus England stammten, mit Kohle und Stahl reich geworden.  Im Ruhrgebiet gehörten den Brüdern Haniel eine Vielzahl von Zechen, Hochöfen und Stahlwerken. 1837 hatte Max Haniel eine Tochter des Stahlunternehmers James Cockerill geheiratet. Noch tiefer verstrickten sich die Unternehmerfamilien Haniel und Cockerill, als 1853 der Sohn von James Cockerill, das war Philipp Heinrich Cockerill, eine der zwölf Geschwister aus dem Hause Haniel heiratete, das war Thusnelde Emilie. Philipp Heinrich Cockerill kaufte 1883 das Schloß Allner, und von dort aus reichten seine langen Arme der Unternehmensführung ins Ruhrgebiet, zur Zeche Zollverein in Essen, zur Zeche Rheinpreußen in Duisburg oder zur Gutehoffnungshütte in Oberhausen.

Der Anstieg zieht sich mächtig in die Länge, bis er in Happerschoß abflacht. Auch Happerschoß ist alt, 1054 wurde die Ortschaft als „haperscozze“ erstmals in einer Schenkungsurkunde der Königin von Polen an die Abtei Brauweiler erwähnt. Trotzdem ist der Ortskern kaum mehr als 200 Jahre alt. Im August 1807 reichte wohl eine kleine Flamme, ein Großfeuer auszulösen. Der August war sengend heiß und trocken, die Scheunen waren prall gefüllt mit der Getreideernte, und so manche Bauernhöfe waren nicht mit Dachziegeln, sondern mit Stroh gedeckt. Das Feuer breitete sich in Windeseile aus, so dass in drei Stunden 36 Häuser und 22 Scheunen bis auf die Grundmauern abbrannten. Besonders tragisch war, dass die Pfarrkirche St. Remigius ebenso in der Feuersbrunst unterging. Die Bewohner von Happerschoß wollten ihre Kirche wieder neu aufbauen und hatten ordentlich Spenden gesammelt, doch dies scheiterte an der französischen Besatzung, nachdem das Rheinland von Napoleonischen Truppen überrollt worden war. Aber dies widersprach dem Konzept der Franzosen, die Kirchen schließen wollten und mit der Reorganisation der Gemeinden nach dem Vorbild der Departements in ihrem Heimatland beschäftigt waren. Die Gemeinde und die Pfarre Happerschoss wurden aufgelöst, so dass sich die Franzosen gegen einen Kirchenneubau sperrten. Genau elf Jahre lang war Happerschoss ohne Kirche, bis die Preußen als die neuen Herren im Rheinland die Dinge anders sahen und den Happerschossern zu ihrer Kirche verhalfen.

Auf und ab geht die Straße zu den nächsten Dörfern, das sind Heisterschoß, Remschoß und Wolperath. Kurios sind Kreuze am Straßenrand, die sich in einer Senke vor Wolperath zu einem wahren Aufmarsch verdichten. „Wo ist mein Radweg ?“ lese ich auf einem dieser Kreuze. Fahrradfahrer und der Künstler Helmut Bodt haben sich zusammengetan, um auf das unzureichende Radwegnetz aufmerksam zu machen. Immer wieder hatte sie der Landesbetrieb Straßenbau NRW vertröstet, auf diesem Streckenabschnitt einen Radweg zu bauen, wegen der vorläufigen Haushaltsführung und umzusetzender Haushaltssperren. Dreißig Jahre lang wird mittlerweile diskutiert und protestiert, während 40 Kreuze die Schwerfälligkeit des bürokratischen Appartes anprangern.


Neunkirchen, Kreisverkehr (oben)
Foto aus den 1950er Jahren (unten)
Quelle: Haarhaus/Reinartz, Neunkirchen-Seelscheid, wie es einmal war
Nun erreiche ich Neunkirchen-Seelscheid, diese Bindestrich-Gemeinde, die 1969 im Rahmen der kommunalen Neuordnung entstanden war. Dass vieles platt und etwas uninspiriert aussieht, das erahne ich an der Betonsäule vor der Firma MTT Logistik. Über den Kreisverkehr, der der französischen Partnerschaftsstadt Canton-les-Essarts gewidmet ist, geht es dann ins Ortsinnere des einen Teils der Bindestrich-Gemeinde, das ist Neunkirchen. Allzu viel bemerkenswertes entdecke ich nicht, dazu ist die schnurgerade Hauptstraße mit jede Menge Verkehr und Schulbussen, vor denen sich wahre Fluten von Schülern drängeln, zu dominant.

Wenn ich alte Postkarten aus den 1950er-Jahren betrachte, scheint der deutliche Anstieg der Einwohnerzahl in den 1970er Jahren nicht allzu viel von der einst beschaulichen Ortsdurchfahrt übrig gelassen zu haben. Der Verkehr fließt auf einer breiten Spur samt Fahrradweg, Gehöfte sind verschwunden, Fachwerkbauten sind eine Ausnahme. Pizzeria, Eiscafé, Bäckerei, Bistrot, Restaurant, an Einkehrmöglichkeiten mangelt es nicht. So spüle ich meine anstrengenden drei Anstiege schnell mit einem Weizenbier herunter. Mein Versuch, in so etwas wie einen historischen Ortskern einzudringen, ist nicht mit Erfolg gekrönt: eine verschieferte Häuserrückwand an der Schmiedestraße, ein Raumausstatter, der einen rot-schwarz gepolsterten Stuhl auf dem Servierteller seines Ladeneingangs präsentiert, eine Buchhandlung in einem Fachwerkhaus, vor dessen Eingang sich Glyzinien ranken; was alt aussieht, ist schnell aufgezählt.

Wahnbach
Dabei ist Neunkirchen durchaus alt und es gibt so manches Verbindende mit Seelscheid. Das älteste bekannte Dokument, in dem die Pfarrei Neunkirchen erwähnt wird, stammt aus dem Jahr 1178. Dieses Dokument schrieb fest, dass das Kölner Sankt-Andreas-Stift gegenüber Neunkirchen das Zehntrecht besaß. 1398 wurde erstmals „Neunkirchen mit einer Kapelle zu Seelscheid“ genannt, das war in einer Urkunde der Herzöge von Berg, in der die steuerpflichtigen Dorfschaften aufgezählt wurden. Daraus ergibt sich die etwas seltsame, aber durchaus gebräuchliche Konstruktion von Abgaben im Mittelalter: an die Kirche ist der Zehnte der Ernteerträge zu zahlen, an die Grafen und weltlichen Herrscher waren es zusätzlich Steuern. Beide Ortschaften, Neunkirchen und auch Seelscheid, sind, wie später nachgewiesen wurde, noch wesentlich älter. So bewies Ägidius Gelenius 1645 in seiner Schrift „De admiranda, sacra et civili magnitudine Coloniae Agrippinesis Augustae“, dass das Zehntrecht bereits im 10. Jahrhundert bestand.

Die Pfarrkirche St. Margaretha, die die Hauptstraße mit ihrem spitzen Kirchturm einsam überragt, hebt sich von dem glatten Erscheinungsbild von Neunkirchen grundlegend ab. Glaubt man der alten Sage vom Dachdecker, so hat sich die Zahl „Neun“ in der Ortsbezeichnung „Nunkirghen“ wie folgt überliefert: nachdem eben dieser Dachdecker auf die Spitze des Kirchturms geklettert war und den Wetterhahn montiert hatte, vollendete er sein Werk, trank oben auf der Kirchturmspitze ein Glas Wein auf das gute Gelingen und schaute von oben auf die Landschaft herab. Dabei entdeckte er acht Kirchen und rief den Umstehenden zu: „In allen Richtungen sehe ich zusammen acht Kirchen; diejenige Kirche, auf der ich stehe, ist die neunte Kirche, deshalb soll der Ort Neunkirchen heißen !“.

Der Ortsname „Neunkirchen“ hat sich in unserer Republik durchaus stark verbreitet. Die gleichnamigen Städte – im Saarland, Siegerland oder am Niederrhein – leiten sich oft aus der Vorsilbe „neu“ ab, dass in ersten Siedlungen aus der Karolingerzeit „neue“ Kirchen entstanden waren. Ägidius Gelenius blickt in seiner Schrift aus dem Jahr 1645 noch weiter zurück. Um 950 schenkte der Kölner Erzbischof dem Kölner St. Andreasstift die Kirche zu „Nunkirghen“, so dass es eine Vorläuferkirche gegeben haben muss. Solche Vorläuferkirchen waren oftmals sogenannte Eigenkirchen, das kleine Kapellen in diesen ersten Siedlungen, in denen die Herrscher das Christentum zu verbreiten suchten.

Aus der Epoche von 1178, in der „Nunkirghen“ erwähnt wird, haben sich Teile des Chors erhalten, während das Langhaus und der Kirchturm 1913 abgerissen und neu gebaut wurden, und der Chor überrascht wiederum mit seinen Decken- und Wandmalereien. 1952 entdeckt, konnte das Alter der Malereien auf das 12. Jahrhundert datiert werden. Dort erschließen sich die Bilderwelten aus der Bibel, die die Menschen im Hochmittelalter geprägt haben. Vielleicht hatte sogar die Jahrtausendwende nachgewirkt, als die Menschen den Weltuntergang auf sich hatten zukommen sehen.  Das Ende der Welt vor den Augen, sind die Decken im Chor mit den vier apokalyptischen Reitern bemalt, in der Südnische des Chores mahnt das Jüngste Gericht. Diese Endzeitlehre beschreibt das Buch der Offenbarung: in der Mitte der Kuppel ist ein Pferd eingekreist, daneben symbolisieren die vier Reiter die letzten vier Dinge, das sind Tod, Gericht, Himmel und Hölle. 

Ich fahre Neunkirchen wieder hinaus zum Kreisverkehr, in dessen Mitte das metallene Würfelgestell seltsame Formen annimmt, indem moderne Kunst mit der hohen Kunst des Gartenbaus kombiniert wird. Ich fahre nach rechts auf die Bundesstraße B507 in Richtung Lohmar, die schnurgerade ins Tal hinunterstrebt. Bergab, knickt die Straße einmal nach rechts ab, das zweite Mal bin ich im Tal des Wahnbachs angelangt und ich biege rechts in das Wahnbachtal in Richtung Seelscheid ab, während der Wahnbach nach links vor sich her gluckst und bald den Talsperrenbereich erreicht.

Denkmal Stefan Gruchot
Versteckt im Wald, zugedeckt durch den Höhenrücken, kreise ich die regelrecht um die Wahnbachtalsperre herum, ohne sie zu Gesicht zu bekommen. An dieser Stelle sind es kaum ein paar hundert Meter, dass der Talsperrensee beginnt. Als sich am 20. Dezember 1956 die Absperrklappen im Damm schlossen, stauen sich seitdem zwanzig Millionen Liter Wasser, die nun die Stadt Bonn und weite Teile des Rhein-Sieg-Kreises mit Trinkwasser versorgen. Höfe und Wassermühlen, teilweise noch aus dem Mittelalter, versanken in den Wassermassen, ebenso die Wahnbahntalstraße, die 1927 fertiggestellt wurde. In Zeiten der Hyperinflation, der beginnenden Weltwirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit hatte sich diese Straße aus „Mitteln der produktiven Erwerbslosenfürsorge“ finanziert.

Von Siegburg aus kommend, sollte die Straße die unberührten Regionen des Bergischen Landes erschließen. Dass dieser Streckenabschnitt unberührt und still ist wie in den 1920er Jahren, das verhindert der einigermaßen lebhafte Autoverkehr. Die landschaftliche Schönheit stört dies indes nicht. Fette Wiesen erstrecken sich bis zum Waldrand. Alleebäume werfen kraxelige Schatten  mit ihrem vom Frühling begrünte Geäst auf die Fahrbahn. Im Zickzack bahnt sich der Wahnbach durch das gemächliche Flußtal seinen Weg.

Bevor ich die nach links abknickende Straße nach Seelscheid erreiche, erschaudere ich vor einem Gedenkstein am Wegesrand. Ein mannshoher Findling, in Sandstein gehauen, vergegenwärtigt die Schrecken des Zweiten Weltkriegs: „Hier starb durch den Strang der Polnische Kriegsgefangene Stefan Gruchot, geboren am 14.7.1912 in Kozmin“, so mahnt der strenge weiße Schriftzug. Gruchot gehörte zu sechzig polnischen und russischen Zwangsarbeitern, die in Neunkirchen-Seelscheid auf Bauernhöfen halfen.

Der Anstieg nach Seelscheid ist eine Tortur. Ich verlasse die tiefe Kerbe des Wahnbachtals, indem ich mich durch die steile Hanglage von Wohngebieten hindurch wurstele. An der großen Ampel habe ich schließlich die Kreuzung mit der Zeithstraße, einer alten Handelsstraße, erreicht, auf der die heutige Bundesstraße B56 verläuft. Der Ortskern von Seelscheid grüßt mich mit dem Turm der St. Georgs-Kirche geradeaus. Der Bedeutung der Nachsilbe „-scheid“ entsprechend, meide ich den Ortskern von Seelscheid und bleibe auf der Bundesstraße B56. Die Vorsilbe „Seel“ könnte aus dem altdeutschen Wort „sahl“, was „Burg“ bedeutet, abgeleitet sein. „Scheid“ steht hier für eine Wasserscheide, denn Seelscheid ist vom Naafbach auf der einen Seite und vom Wenigerbach auf der anderen Seite umzingelt. Als Rennradfahrer müsste ich zwei weitere ordentliche Berge bewältigen, worauf ich lieber verzichte, da mir mittlerweile vier dicke Berge in den Knochen stecken.

Also geht es weiter über die Bundesstraße B56, die aber gut befahrbar ist auf einem separaten Radweg. Die etwas merkwürdigen Ortsbezeichnungen „Dorf-Seelscheid“ und „Berg-Seelscheid“, die den Ort in einen evangelischen und katholischen Teil auseinander dividierten, lasse ich dabei jenseits des Wenigerbachtales rechts liegen. Anstatt dessen radele ich durch die nicht weniger kuriose Bezeichnung „Post-Seelscheid“. Den Grund dafür erkenne ich einen Kilometer weiter, denn dort steht am Straßenrand das Gasthaus Zollhaus. Der ansprechende Fachwerkbau hat längst bessere Zeiten gesehen: die Rolläden sind heruntergelassen, Unkraut wuchert in den Ritzen vor dem Eingang, weiße Farbe blättert  zwischen Fachwerkbalken ab, nur das goldgelbe Reklameschild einer Brauerei aus dem Sauerland krallt sich felsenfest unter der Regenrinne. 


Seelscheid: "Post-Seelscheid" auf der Zeithstraße (oben links)
Radweg an der Bundesstraße B56 (oben rechts)
Altes Zollhaus (unten)
Dieser Fachwerkbau war einst mehr Poststation als Zollstation. Man schrieb das Jahr 1705, als der Kurfürst Johann Wilhelm II., in Düsseldorf besser bekannt als „Jan Wellem“, eine Postlinie von Köln-Mülheim nach Siegen eröffnete. Aus heutiger Sicht ist das kaum zu glauben, dass der rechtsrheinische Kölner Stadtteil Mülheim von Düsseldorf aus regiert wurde und dass von dort aus eine Postlinie in das Bergische Land betrieben wurde. In Zeiten, in denen Reiter und Pferdefuhrwerke dem schlecht zurecht geflickten Wegenetz samt Wegelagerern trotzen mussten, war die Ankunft am Ziel oft Glückssache. So beschränkte sich die Postlinie auf die Beförderung von Personen und Gütern. Es wurden auch Briefe mitgenommen, wenn man dem Postillon für alle Gefahren und Widrigkeiten ein Trinkgeld spendierte. Damit ist diese Postlinie, die ab 1774 ein öffentliches Netz einführte, sogar älter als die Thurn-und-Taxis’schen Postlinien, einschließlich der Beförderung von Briefen.

Die Strecke von Köln-Mülheim zum Seelscheider Zollhaus umfasste dann einen Tagesritt. Zu diesen Zeiten muss es in dem Zollhaus wie in einem Taubenschlag zugegangen sein. Fuhrleute übernachteten, die Pferde ruhten sich in Ställen aus, umzuladendes Frachtgut konnte zwischengelagert werden. An so manchen Abenden durften die Fuhrleute lange zusammen gesessen haben, es dürfte hoch her gegangen sein und Bier und Wein sind wahrscheinlich in rauen Mengen geflossen.

Die Zeiten änderten sich mit einer besseren Befestigung der Straßen, gleichzeitig koordinierte das Königliche Preußische Generalpostamt ab 1816 den Betrieb von Postlinien. So wurde 1861 die Zeithstraße zwischen Siegburg und Much, dem Verlauf der heutigen Bundesstraße B56 entsprechend, ausgebaut, so dass einmal täglich eine Postkutsche fuhr, die auch Briefe und Pakete beförderte. Dabei verlegte die Oberpostdirektion Köln den Haltepunkt in die Richtung von Seelscheid, das war ungefähr auf der Höhe der Ortsteile „Dorf-Seelscheid“ und „Berg-Seelscheid“. Auf der Zeithstraße gesellte sich nun der neue Ortsteil „Post-Seelscheid“ hinzu.

Straßenschild nach Lohmar
Hinter dem Zollhaus radele ich weiter über den bequem ausgebauten Radweg, doch urplötzlich endet der Radweg ohne Ankündigung mitten im Straßengraben. Einen vielleicht fünf Zentimeter breiten Streifen haben die Radwegbauer den Fahrradfahrern übrig gelassen, der im Neunzig-Grad-Winkel nach links wegknickt, um zur Bundesstraße B56 zurück zu gelangen. Übergangsweise mische ich mich unter den ganzen Autoverkehr, bevor ich an der nächsten großen Kreuzung auf die Bundesstraße B507 nach rechts abbiege, dann wieder links in Richtung Lohmar.

Das nächste Schild „Deutsche Alleenstraße Richtung Rösrath“ weist mich wieder einmal in die Irre, denn von einer schattigen, Straßen-überspannenden Allee aus alten Baumbeständen habe ich kaum etwas gesehen. „Das Programm Deutsche Alleenstraße bringt Tourismus, Verkehr und Umwelt zusammen", so äußerte sich der NRW-Verkehrsminister bei der Eröffnung im Jahr 2009. Die Idee der „Deutschen Alleenstraße“, dessen Wurzeln in den Neuen Bundesländern mit wirklich alten Baumalleen zu suchen sind, wurde 2009 über Dortmund, sozusagen als Spätgeburt der deutschen Wiedervereinigung, entlang der Bergischen Heideterrasse über Neunkirchen-Seelscheid bis nach Bad Honnef verlängert.

In der Tat, muss ich mir die Bruchstücke von Baumalleen, die ich auf dieser Rennradtour gesehen habe, verzweifelt zusammensuchen. Ja, die paar Kilometer auf der Wahnbachtalstraße waren Baumalleen nicht zu übersehen. Und der Rest ? Wie auf der Strecke nach Neunkirchen blicke ich zwar allenthalben auf diese Hinweisschilder der Deutschen Alleenstraße, aber Bäume am Straßenrand reduzieren sich auf Einzelerscheinungen. In der Summenbetrachtung scheinen Baumalleen eher ein Hirngespinst von Tourismusmanagern zu sein.

Dennoch: die Abfahrt auf der Bundesstraße B507 ins Tal nach Lohmar begeistert. Gemächlich und breit ist der Seitenstreifen, auf dem ich mühelos hinunter rollen kann. Erst klettern Wiesen die Höhen hinauf, Baumreihen fallen  in Seitentäler hinab, Rapsfelder bestechen mit ihrem satten Gelb, später drängelt sich der Mischwald bis an den Straßenrand.

Die Anfahrt endet in Lohmar. Vor der Autobahnauffahrt halte ich mich links, an der Ampel vor der großen Kreuzung zur Autobahnauffahrt A3 lande ich auf der alten Ortsdurchfahrt von Lohmar, bevor die Umgehungsstraße gebaut wurde. Jedesmal demotiviert mich Lohmar, so viel haben die Planer an der Stadt herum gewurstelt und diese verunstaltet. Ich fahre einmal quer durch Lohmar, folge den Hinweisschildern in Richtung Troisdorf und biege an dem letzten Kreisverkehr, an dem ich geradeaus auf LIDL und Kaufland schauen kann, nach rechts ab.

Bevor mich die letzte Steigung durch die Wahner Heide schafft, tanke ich am Alten Fährhaus vor der Agger mit einem Weizenbier auf. Das erfrischt und bringt meine müden Beine wieder auf Trab, der Fluglärm kann die idyllische Lage an der Agger nicht stören. Dann fahre ich weiter über die Agger, dann zweimal links in Richtung Troisdorf, wo die Steigung abflacht, vorbei an Sand, Heide und Kiefern, weiter geradeaus nach Troisdorf hinein.

An der großen Ampel drehe ich nach links über die Bundesstraße B8 zur Agger zurück, vor der Aggerbrücke fahre ich nach rechts auf den Hochwasserdamm. Dieser führt mich weiter an der Agger vorbei, die einige Kilometer weiter in die Sieg mündet. Den Fahrradweg beeindruckt dies nicht, ihm kann ich über den Hochwasserdamm bis zur Landstraße L269 folgen. Dort habe ich den Stadtrand von Bonn bereits erreicht. Ich überquere die große Kreuzung an der Autobahnauffahrt, dann geht es über Schwarz-Rheindorf zum Alten Zoll zurück.


Strecke (73 Kilometer):