Donnerstag, 24. September 2015

Stephen Greenblatt - Die Wende: wie die Renaissance begann

Man schrieb das Jahr 1417, als es den päpstlichen Sekretär Poggio Bracciolini in den Nachwirren des Konstanzer Konzils nach Deutschland verschlug. Die Kirche war mittendrin, sich im Spannungsfeld von Intrigen und Macht zu zerreißen. Niedergang und Abstieg hatten Rom erfasst, Ödnis, Hütten, steinige Felder, Ruinen und Zerfall erstreckten sich zwischen der Peters-Basilika und römischen Tempeln. Handel und ein blühendes Handwerk fehlten, um Rom wieder auf die Beine zu helfen. In dieser Zeit feierten die Päpste rauschende Feste, finanziert durch den Verkauf von Kirchenämtern und den Ablasshandel. Huren verkehrten auf dem Hof der Päpste. Sie waren korrupt, sie führten Kriege, und letztlich war es auch der Umgang mit reformatorischen Bewegungen und Andersgläubigen, der dazu führte, dass Gegenpäpste in einem eigenen Papstpalast in Avignon herrschten.

Poggio Bracciolini erlebte mit, wie das Konstanzer Konzil kläglich scheiterte, wie sein Papst Johannes XIII. ins Gefängnis geworfen wurde, wie der Reformator Hus aus Tschechien 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, ebenso 1416 die Hinrichtung seines Freundes Hieronymus von Prag.

Mittendrin in diesen aufgewühlten Zeiten, liest sich das Buch von Stephen Greenblatt mit reichlich Spürsinn geradezu wie ein Kriminalroman. Greenblatt, Professor für Literaturwissenschaften an der Harvard-University, beweist, dass er sich als US-Amerikaner auf dem europäischen Kontinent bestens auskennt. Präzise und detailliert, zeichnet er den Weg nach, den der päpstliche Sekretär Poggio von seiner Heimat Arezzo in Italien nach Rom gegangen ist, wie er sich während und nach dem Konstanzer Konzil von 1414 bis 1418 in Deutschland aufgehalten hat, wie er aus Angst vor Verfolgung nach England emigriert ist, bis er 1423 nach Italien zurückkehrte.

Während seiner Zeit in Deutschland trieb Poggio eine Berufung vorwärts, die Greenblatt als eine Art von Urzelle der Renaissance beschreibt: Poggio war Bücherjäger. Dabei versteht er sich im Sinne der Renaissance als Humanist, der Grammatik, Rhetorik, Poesie, Philosophie und Geschichte in antiken Schriften studierte mit dem Ziel, anderen eine umfassende Geistesbildung beizubringen.

Greenblatts Beschreibungen von Büchern und Bibliotheken in den Zeitaltern bis zum 15. Jahrhundert gehen sehr tief, so dass mich als Leser so manche Passagen gefesselt haben, was auch an der gelungenen Übersetzung ins Deutsche liegt. Greenblatt holt ganz weit aus, indem er die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria beschreibt, danach benennt er Bibliotheken als wichtigen Ort des öffentlichen Lebens in Rom. Greenblatt erläutert karolingische Minuskel aus der Zeit Karls des Großen, er befasst sich mit der Technik des Abschreibens in mittelalterlichen Klosterskriptorien. Der Buchdruck eines Johannes Gutenberg wurde erst 1450 erfunden, daher führte kein Weg am Abschreiben vorbei. In Klosterskriptorien war es den Abschreibern strikt verboten, bereits Abgeschriebenes zu ändern. Es gab zwar eine Tinktur als Käse, Milch und Kalk, um Schreibfehler wieder zu löschen, aber die weggelöschten Buchstaben mussten restlos ausgelöscht aussehen, dass weder der Abt noch der Klosterbibliothekar es bemerken könnten. Greenblatt widmet sich dabei auch dem Material des Papiers. In diesem Sinne war das Mittelalter so dunkel, wie man es sich gemeinhin vorstellt. Mit dem Zusammenbruch des römischen Westreiches war der Handel mit den Papyrushändlern in Ägypten zum Erliegen gekommen. Danach wurde Pergament verwendet, das waren Tierhäute. Manche eigneten sich besser, das waren die Häute von Kälbern, andere fast gar nicht, das waren Schweinshäute, in denen die Borsten durchstachen. Haare mussten restlos entfernt sein, die Schreibfläche musste glatt sein. Besonders schlimm war der Mangel, denn es konnte keine maximale Anzahl von Tieren nur um des Pergamentes Willen geschlachtet werden.

So kam es, dass sich niemand um Schriften in Bibliotheken kümmerte, dass diese im Verlauf von Jahrhunderten und Jahrtausenden unleserlich wurden oder in sich zerfielen, andere Schriften gingen durch Raub und Zerstörung verloren. 1417 machte Poggio schließlich die entscheidende Entdeckung – mit hoher Wahrscheinlichkeit im Kloster Fulda. Der Klosterbibliothekar ließ ihn in den gewölbten Raum der Klosterbibliothek hinein. Unter den Schriften römischer Epiker entdeckte er einen langen Text in der Form von Hexametern, der ursprünglich 50 v. Chr. verfasst wurde und von einem Dichter namens Titus Lucretius Carus stammte. Poggio bat den Klosterbibliothekaren, ihm eine Abschrift zu erstellen, was das Kloster dann auch tat.

Als Poggio einige Zeit später die Abschrift in seiner Hand hielt, identifizierte die Schrift als das Werk „de rerum natura“ – auf Deutsch: „die Dinge in der Natur“ - von Lukrez, der ein Schüler des griechischen Philosophen Epikur war. Im nachhinein stellte sich heraus, dass diese Schrift das einzige noch existierende Exemplar war. Sich anlehnend an Epikur, waren die Kernaussagen das Streben nach Glück und das Vermeiden von Unglück, oder auch die Steigerung des Genusses und die Verringerung des Leidens. Eine weitere Kernbotschaft war, dass sich die Dinge immer weiter zerlegen lassen, so dass die kleinsten Einheiten aus Atomen bestehen. Wenn es denn Götter gibt, dann sind es viele Götter. Mit dem Tod lösen sich all die kleinsten Einheiten, so dass kein Leben nach dem Tod existiert.

So stolz wie Poggio auf seine Entdeckung war, um so schneller wurde ihm klar, dass der Inhalt von „de rerum natura“ im Umfeld von Ketzerverfolgung und Häresie Sprengstoff war. Die Kernaussagen standen den Lehren der Kirche diametral gegenüber, zumal er sich stets loyal gegenüber seinem Dienstherren, dem Papst, verhalten hatte. Es dauerte nicht lange, dass Lukrez nach der Verbreitung von „de rerum natura“ zu den am schärfsten verbotenen Autoren zählte. Der Effekt ging sogar in die andere Richtung: Lukrez wurde fleißig gelesen, nämlich von Gegnern der Kirche, die gegenläufige Schöpfungsvorstellungen zu konstruierten suchten und bei Lukrez fündig wurden. Poggio musste einen Drahtseilakt hinlegen, um nicht in den Sog der Ketzerei hinein zu geraten.

Geschützt von den Medici, dem einflussreichen Adelsgeschlecht, war er schließlich in Florenz sicher. Durch Handel reich geworden, stützten die Medici ihr Weltbild weniger auf die Religion, sondern auf Großkaufleute, Bankiers, das Handwerk und die Wissenschaften, nicht zu vergessen Kunst und Malerei. Florenz lag weit genug entfernt, so dass Poggio der Zugriff vor der Kirche in Rom erspart blieb. 1459 starb Poggio im Florenz im Alter von 79 Jahren.

Doch mit dem Tod von Poggio geht bei Greenblatt die Entwicklung der Renaissance weiter. Das Werk „de rerum natura“ hat Eingang gefunden in andere Schriften, die die Renaissance maßgeblich gestaltet haben. Greenblatt spannt den Bogen nach Kopernikus, Galilei, Newton und verzweigt diesen Bogen zur Soziallehre eines Thomas Morus oder zu den Utopien eines Tommasso Campanella. Die Übersetzung des Buches mit „Die Wende“ verwirrt vielleicht ein wenig, da Greenblatt die Entwicklungen in der Renaissance nicht durchgängig als Wiedergeburt aus der Antike begreift. Anstatt dessen schaut Greenblatt bis in die Gegenwart hinein, die das Denken eines Lukrez ebenso durchdrungen hat: der Glaube an den technischen Fortschritt, ein Gott muss nicht notwendigerweise der Ursprung aller Dinge sein, befreite Liebe und sexuelle Revolution, der Autoritätensturz und enthemmter Genuss.

1 Kommentar:

  1. Danke, Dieter - wirklich interessant (wenn ich so überlege, wie unbeseelt Wissen in der Schule vermittelt wurde - oder lag es evtl. doch nur am nicht vorhandenen Interesse von uns "banausigen" Schülern?)
    Wolfgang B. (bei SaBine "auffe" Insel)

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