Man schrieb das Jahr 1417, als es den päpstlichen
Sekretär Poggio Bracciolini in den
Nachwirren des Konstanzer Konzils nach Deutschland verschlug. Die Kirche war
mittendrin, sich im Spannungsfeld von Intrigen und Macht zu zerreißen.
Niedergang und Abstieg hatten Rom erfasst, Ödnis, Hütten, steinige Felder, Ruinen
und Zerfall erstreckten sich zwischen der Peters-Basilika und römischen Tempeln.
Handel und ein blühendes Handwerk fehlten, um Rom wieder auf die Beine zu
helfen. In dieser Zeit feierten die Päpste rauschende Feste, finanziert durch
den Verkauf von Kirchenämtern und den Ablasshandel. Huren verkehrten auf dem
Hof der Päpste. Sie waren korrupt, sie führten Kriege, und letztlich war es auch
der Umgang mit reformatorischen Bewegungen und Andersgläubigen, der dazu
führte, dass Gegenpäpste in einem eigenen Papstpalast in Avignon herrschten.
Poggio Bracciolini
erlebte mit, wie das Konstanzer Konzil kläglich scheiterte, wie sein Papst
Johannes XIII. ins Gefängnis geworfen wurde, wie der Reformator Hus aus
Tschechien 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, ebenso 1416
die Hinrichtung seines Freundes Hieronymus von Prag.
Mittendrin in diesen
aufgewühlten Zeiten, liest sich das Buch von Stephen Greenblatt mit reichlich
Spürsinn geradezu wie ein Kriminalroman. Greenblatt, Professor für
Literaturwissenschaften an der Harvard-University, beweist, dass er sich als
US-Amerikaner auf dem europäischen Kontinent bestens auskennt. Präzise und
detailliert, zeichnet er den Weg nach, den der päpstliche Sekretär Poggio von
seiner Heimat Arezzo in Italien nach Rom gegangen ist, wie er sich während und
nach dem Konstanzer Konzil von 1414 bis 1418 in Deutschland aufgehalten hat,
wie er aus Angst vor Verfolgung nach England emigriert ist, bis er 1423 nach
Italien zurückkehrte.
Während seiner Zeit
in Deutschland trieb Poggio eine Berufung vorwärts, die Greenblatt als eine Art
von Urzelle der Renaissance beschreibt: Poggio war Bücherjäger. Dabei versteht
er sich im Sinne der Renaissance als Humanist, der Grammatik, Rhetorik, Poesie, Philosophie und Geschichte in antiken
Schriften studierte mit dem Ziel, anderen eine umfassende Geistesbildung
beizubringen.
Greenblatts
Beschreibungen von Büchern und Bibliotheken in den Zeitaltern bis zum 15.
Jahrhundert gehen sehr tief, so dass mich als Leser so manche Passagen
gefesselt haben, was auch an der gelungenen Übersetzung ins Deutsche liegt. Greenblatt
holt ganz weit aus, indem er die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria
beschreibt, danach benennt er Bibliotheken als wichtigen Ort des öffentlichen
Lebens in Rom. Greenblatt erläutert karolingische Minuskel aus der Zeit Karls
des Großen, er befasst sich mit der Technik des Abschreibens in
mittelalterlichen Klosterskriptorien. Der Buchdruck eines Johannes Gutenberg
wurde erst 1450 erfunden, daher führte kein Weg am Abschreiben vorbei. In
Klosterskriptorien war es den Abschreibern strikt verboten, bereits
Abgeschriebenes zu ändern. Es gab zwar eine Tinktur als Käse, Milch und Kalk,
um Schreibfehler wieder zu löschen, aber die weggelöschten Buchstaben mussten
restlos ausgelöscht aussehen, dass weder der Abt noch der Klosterbibliothekar
es bemerken könnten. Greenblatt widmet sich dabei auch dem Material des Papiers.
In diesem Sinne war das Mittelalter so dunkel, wie man es sich gemeinhin
vorstellt. Mit dem Zusammenbruch des römischen Westreiches war der Handel mit
den Papyrushändlern in Ägypten zum Erliegen gekommen. Danach wurde Pergament
verwendet, das waren Tierhäute. Manche eigneten sich besser, das waren die
Häute von Kälbern, andere fast gar nicht, das waren Schweinshäute, in denen die
Borsten durchstachen. Haare mussten restlos entfernt sein, die Schreibfläche
musste glatt sein. Besonders schlimm war der Mangel, denn es konnte keine
maximale Anzahl von Tieren nur um des Pergamentes Willen geschlachtet werden.
So kam es, dass sich
niemand um Schriften in Bibliotheken kümmerte, dass diese im Verlauf von
Jahrhunderten und Jahrtausenden unleserlich wurden oder in sich zerfielen, andere
Schriften gingen durch Raub und Zerstörung verloren. 1417 machte Poggio
schließlich die entscheidende Entdeckung – mit hoher Wahrscheinlichkeit im
Kloster Fulda. Der Klosterbibliothekar ließ ihn in den gewölbten Raum der
Klosterbibliothek hinein. Unter den Schriften römischer Epiker entdeckte er
einen langen Text in der Form von Hexametern, der ursprünglich 50 v. Chr.
verfasst wurde und von einem Dichter namens Titus Lucretius Carus stammte.
Poggio bat den Klosterbibliothekaren, ihm eine Abschrift zu erstellen, was das
Kloster dann auch tat.
Als Poggio einige
Zeit später die Abschrift in seiner Hand hielt, identifizierte die Schrift als
das Werk „de rerum natura“ – auf Deutsch: „die Dinge in der Natur“ - von
Lukrez, der ein Schüler des griechischen Philosophen Epikur war. Im nachhinein
stellte sich heraus, dass diese Schrift das einzige noch existierende Exemplar
war. Sich anlehnend an Epikur, waren die Kernaussagen das Streben nach Glück
und das Vermeiden von Unglück, oder auch die Steigerung des Genusses und die
Verringerung des Leidens. Eine weitere Kernbotschaft war, dass sich die Dinge
immer weiter zerlegen lassen, so dass die kleinsten Einheiten aus Atomen
bestehen. Wenn es denn Götter gibt, dann sind es viele Götter. Mit dem Tod
lösen sich all die kleinsten Einheiten, so dass kein Leben nach dem Tod
existiert.
So stolz wie Poggio
auf seine Entdeckung war, um so schneller wurde ihm klar, dass der Inhalt von „de
rerum natura“ im Umfeld von Ketzerverfolgung und Häresie Sprengstoff war. Die
Kernaussagen standen den Lehren der Kirche diametral gegenüber, zumal er sich
stets loyal gegenüber seinem Dienstherren, dem Papst, verhalten hatte. Es dauerte nicht lange, dass Lukrez nach der Verbreitung von „de rerum
natura“ zu den am schärfsten verbotenen Autoren zählte. Der Effekt ging sogar
in die andere Richtung: Lukrez wurde fleißig gelesen, nämlich von Gegnern der
Kirche, die gegenläufige Schöpfungsvorstellungen zu konstruierten suchten und
bei Lukrez fündig wurden. Poggio
musste einen Drahtseilakt hinlegen, um nicht in den Sog der Ketzerei hinein zu
geraten.
Geschützt von den
Medici, dem einflussreichen Adelsgeschlecht, war er schließlich in Florenz sicher.
Durch Handel reich geworden, stützten die Medici ihr Weltbild weniger auf die
Religion, sondern auf Großkaufleute, Bankiers, das Handwerk und die
Wissenschaften, nicht zu vergessen Kunst und Malerei. Florenz lag weit genug
entfernt, so dass Poggio der Zugriff vor der Kirche in Rom erspart blieb. 1459
starb Poggio im Florenz im Alter von 79 Jahren.
Doch mit dem Tod von
Poggio geht bei Greenblatt die Entwicklung der Renaissance weiter. Das Werk „de
rerum natura“ hat Eingang gefunden in andere Schriften, die die Renaissance
maßgeblich gestaltet haben. Greenblatt spannt den Bogen nach Kopernikus, Galilei, Newton und verzweigt diesen Bogen zur Soziallehre eines Thomas Morus oder zu den Utopien eines Tommasso Campanella. Die Übersetzung des Buches mit „Die Wende“
verwirrt vielleicht ein wenig, da Greenblatt die Entwicklungen in der Renaissance nicht durchgängig als Wiedergeburt aus der Antike begreift. Anstatt dessen schaut Greenblatt
bis in die Gegenwart hinein, die das Denken eines Lukrez ebenso durchdrungen
hat: der Glaube an den technischen Fortschritt, ein Gott muss nicht
notwendigerweise der Ursprung aller Dinge sein, befreite Liebe und sexuelle
Revolution, der Autoritätensturz und enthemmter Genuss.
Danke, Dieter - wirklich interessant (wenn ich so überlege, wie unbeseelt Wissen in der Schule vermittelt wurde - oder lag es evtl. doch nur am nicht vorhandenen Interesse von uns "banausigen" Schülern?)
AntwortenLöschenWolfgang B. (bei SaBine "auffe" Insel)